© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Vereint im Unbehagen
„Anti-Corona-Demonstration“ in Berlin: Zehntausende protestieren gegen einen als übergriffig empfundenen Staat
Björn Harms / Martina Meckelein / Zita Tipold /Jonas Vriesen

In Berlin-Mitte herrscht am Samstag mittag Volksfeststimmung: Junge Familien spazieren gemütlich auf der Straße des 17. Juni und genießen die Sonnenstrahlen. Verträumte Frauen im mittleren Alter ziehen in Hippie-Kleidung den Weg entlang, bei jedem Schritt erklingen kleine Glöckchen, die an ihrem Hosenbund baumeln. Das Aroma von Räucherstäbchen liegt in der Luft, mischt sich zum Teil mit Haschisch-Geruch. Ehepaare in „Querdenken“-Shirts warten gespannt auf den Beginn der Kundgebung, die sich wie schon am 1. August gegen die Corona-Politik der Bundesregierung richtet.

Die Wörter „Frieden“ und „Liebe“ bestimmen die Gespräche. Impfgegner halten Schilder hoch, „Gib Gates keine Chance“, lautet ihre Botschaft. Mitten auf dem Straßenzug ertönt ein Klavier. Ein Pianist spielt Westernhagens bekanntesten Song „Freiheit“, die umstehende Menge stimmt begeistert ein. Ein kleines Grüppchen junger Männer, mit Polohemd und „New Balance“-Schuhen ausgestattet, schaut sich das Ganze eher belustigt an und wartet ab.

Als Höhepunkt spricht     ein Neffe Kennedys

Vor dem Brandenburger Tor tanzt sich derweil die hinduistische Krishna-Bewegung in Ekstase. Neben ihnen besingt eine christliche Splittergruppe die Heilstaten Jesu. An anderer Stelle dröhnt das israelische Lied „Hava Nagila“ aus aufgestellten Lautsprechern, während ältere, vollbärtige Männer, vollständig eingehüllt in der Flagge des Deutschen Reiches, daran vorbeilaufen.

Die skurril anmutende Szenerie macht deutlich: Eine umfassende Antwort darauf zu geben, wer hier eigentlich zusammenkommt, um gegen die Corona-Maßnahmen der Politik zu protestieren, ist schier unmöglich. Zu heterogen ist diese Masse, zu unterschiedlich ihre Ansichten. Von ganz links bis ganz rechts sammelt sich ein breites politisches Spektrum, das sich einzig und allein darin einig ist, mit dem offiziellen Narrativ, der „Mainstream-Meinung“, oder wie auch immer man es nennen mag, abgeschlossen zu haben. Ein mögliches Demonstrationsverbot, das im Vorfeld für Spannungen gesorgt hatte, dürfte sie in ihrer Ablehnung nur bestärkt haben.

Die Berliner Versammlungsbehörde unter Innensenator Andreas Geisel  (SPD) hatte am vergangenen Mittwoch die für das Wochenende angemeldeten Proteste gegen die Corona-Beschränkungen zunächst verboten. Bei dem zu erwartenden Kreis der Teilnehmer würde es zu Verstößen gegen die geltende Infektionsschutzverordnung kommen, so die Begründung. Das Verwaltungsgericht Berlin jedoch kippte die Entscheidung noch am Freitag, was auch das Oberverwaltungsgericht einen Tag später bestätigte – unter der Auflage, die  Sicherheitsabstände einzuhalten.

Nach mehreren Ankündigungen der Polizei, die Veranstaltung bei Nichteinhaltung notfalls aufzulösen, beginnt schließlich um 15.30 Uhr die große Kundgebung. Der Kopf der Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“, Michael Ballweg, ergreift das Wort. Der IT-Unternehmer fordert die Aufhebung aller zum Schutz vor dem neuartigen Coronavirus erlassenen Gesetze „sowie die Abdankung der Bundesregierung“. Es brauche endlich eine „verfassungsgebende Versammlung“ des Volkes. Die solle sogleich mit einem 14tägigen Camp eingeleitet werden, das sich an die Kundgebung anschließt.

Als Höhepunkt des Tages präsentieren die „Querdenker“ den Rechtsanwalt Robert Kennedy jr., einen Neffen des berühmten amerikanischen Präsidenten. Der wettert unter anderem gegen Corona-Angst, kritisiert die Macht der großen BigTech-Unternehmen und warnt vor den Folgen des neuen Mobilfunkstandards 5G. „Ich bin ein Berliner“, wirft er der jubelnden Menge in Anlehnung an seinen Onkel entgegen.

Wer aber sind nun diese „Querdenker“, die dort im Schatten der Siegessäule auf der Bühne stehen? Bemerkenswert ist insbesondere das hohe Mobilisierungspotential der Bewegung. An der Spitze fungiert als organisatorisches Aushängeschild Ballweg, nebst Pressesprecher Stephan Bergmann. Beide weisen jedwedes parteipolitische Interesse weit von sich.

Dazu gesellt sich ein vergleichsweise großes Anwaltsteam rund um die Juristen Ralf Ludwig und Markus Haintz. Das ständige Anmelden von Spontandemonstrationen und die durchgängigen Querelen mit den Behörden machen diesen Rückhalt auch bitter nötig. Gleichzeitig kann „Querdenken“ auf einen eigenen medialen Arm zurückgreifen, der aus einer Reihe reichweitenstarker Youtuber und Dutzenden Telegram-Gruppen besteht. So ist man nicht mehr darauf angewiesen, der etablierten Presse Interviews zu geben. Das eigene Publikum wird durch diese Kanäle bestens erreicht und mobilisiert, schottet sich aber auch zusehends ab.

Als einzige Partei aus dem Bundestag ist die AfD auf der Veranstaltung sichtbar. 20 bis 30 Abgeordnete der Bundestagsfraktion sowie eine erhebliche Menge an einfachen Mitgliedern schlendern auf einer Demonstration herum, die mit ihrem typischen Milieu nicht gerade viel zu tun hat. Warum? „Das Entscheidende hier ist für mich, daß es zum ersten Mal eine Art von bewußter, teils auch unbewußter, Verbindung gibt zwischen der AfD und Leuten aus ganz anderen Richtungen“, meint der Bundestagsabgeordnete Marc Jongen, kulturpolitischer Sprecher der AfD, vor dem Reichstag zur JUNGEN FREIHEIT. „Und die sich trotzdem vereint sehen in der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels, nämlich der Verteidigung der Grundrechte.“ Das habe „erstarrte Fronten zumindest brüchiger werden lassen“. Tatsächlich werden AfD-Mitglieder auf der Demonstration nicht feindselig aufgenommen, können sich wie jeder hier getreu dem Querdenken-Motto „Wir lassen uns nicht spalten“ frei bewegen.

Erstarrte Fronten gibt es im Tagesverlauf an anderen Stellen. Schon früh am Samstag morgen riegelt die Berliner Polizei für kurze Zeit das Brandenburger Tor ab. Wegen mangelnder Fluchtwege, wie es heißt. Die Stimmung erhitzt sich streckenweise, einzelne Personen werden abgeführt. Auch ein für 10.30 Uhr geplanter Marsch unter dem Motto „Versammlung für die Freiheit!“ verzögert sich. Die Polizei verlangt immer wieder, den Abstand einzuhalten – undurchführbar. Immer mehr Demonstranten weichen vom Brandenburger Tor in Richtung Unter den Linden aus. Doch dort ist eine riesige U-Bahn-Baustelle. An der Friedrichstraße sperrt die Polizei ab. Lautsprecherdurchsagen sind nur schwer zu verstehen. „Was hat denn der Polizist gesagt?“ fragt eine ältere Dame. Schulterzucken ist die Antwort. Dreimalige Nachfrage bei einem Beamten, der absperrt. Er nuschelt, trägt unter dem Helm eine schwarze Maske. „Er meinte wohl, daß wegen der Corona-Auflagen keiner mehr auf diese Straße darf“, erklärt sie später einem jungen Mann und zeigt auf die Straße Unter den Linden.

Plötzlich ist die Sperre jedoch offen – keine Gitter, kaum Beamte. Und die Demonstranten stehen schwarzvermummten Antifas gegenüber, die an diesem Tag mehrere kleinere Gegenproteste durchführen. „Ich stoße dir deinen Besenstil in dein braunes Herz“, brüllt ein Linksextremist mit Fahrrad einen Demonstranten an. Der ältere Herr ist total verschüchtert. Eine Frau fragt: „Warum so aggressiv, der hat Ihnen nichts getan.“ Ein wutverzerrter Blick auf den Mann, dann brüllt der Linke: „Beim Anblick von Nazis und Reichskriegsflaggen kriegt man Haß.“ Eine Frau fragt: „Wo sind hier denn Reichskriegsflaggen?“ „Na, überall“, entgegnet ein anderer Schwarzvermummter. „Das sind Reichsflaggen vom Kaiserreich, googel das mal.“ Aber die Gegendemonstranten wollen nicht googeln, sie schreien: „Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten.“

Insgesamt beziffert die Polizei die Teilnehmerzahlen der Corona-Proteste auf 38.000 Personen. Die Schätzungen der JF-Reporter vor Ort variieren zwischen 50.000 und 200.000 Teilnehmern. „Der Einsatz war ein Desaster, der Kräfteeinsatz wurde falsch kalkuliert“, meint ein Beamter später zur JF. Ein anderer vermutet: „Nach all den Bildern sprechen wir im Kollegenkreis darüber, ob dieser Einsatz nicht von Anfang an darauf angelegt war, die Demonstrationen aufzulösen“. Gegen Abend eskaliert die Situation an anderer Stelle.

Seit den frühen Morgenstunden organisieren Reichsbürger aus dem „staatenlos.info“-Umfeld eine eigene Bühne vor dem Reichstag, die mit der Querdenken-Veranstaltung nichts zu tun hat. Vor dieser Bühne verbreitet sich am späten Abend das Gerücht, US-Präsident Donald Trump sei in der Stadt, um einen Friedensvertrag in die Wege zu leiten, den Deutschland dringend benötige, um ein souveräner Staat zu werden. Die Rettung durch Trump ist eine gängige Verschwörungstheorie der obskuren Q-Anon-Bewegung, von denen rund 500 Personen zuerst an der Querdenken-Veranstaltung teilnehmen, nun aber hier vor dem Reichstag lauern. 

Eine rastazopftragende Heilpraktikerin ruft schließlich dazu auf, die Absperrungen zu überwinden und auf den Stufen auf Trump zu warten. Einige hundert Personen – Reichsflaggen, aber auch Regenbogenfahnen schwenkend – rennen schreiend die Treppen des Reichstages hinauf. Ein bizarres Bild. Am nächsten Tag sieht Querdenken-Chef Ballweg sich genötigt, von der Aktion vor dem Reichstag zu distanzieren. Der mittlerweile strömende Regen paßt zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Ballweg den durchnäßten Anhängern verkünden muß, die am Sonntag auf dem Platz vor der Siegessäule verblieben sind. Das geplante Camp, die „verfassungsgebende Versammlung“, ist gerichtlich untersagt worden. Doch die nächsten Demonstrationstermine kommen bestimmt.

Fotos:  „Mir liegt das Grundgesetz am Herzen, deshalb bin ich hier“, sagt Kai Bornowski (l.). „Einige Corona-Maßnahmen, wie etwa die Maskenpflicht, sind strapaziös“, sagt sein Kollege  Sven Zimmermann.; Demo-Teilnehmerin Doris: „Ich habe während der Corona-Krise festgestellt, daß viele Medien nur einseitig informieren. Wo war denn die Opposition im Fernsehen? Zudem habe ich den Eindruck, daß einige kritische Stimmen zensiert werden, zum Beispiel auf Youtube.“; Erik Boomsma aus Holland:  „Ich bin Unternehmer und als Arbeitgeber für 14 Familien verantwortlich. Der Lockdown hat diese Arbeitsplätze gefährdet, dazu darf es nicht noch einmal kommen.“; Ehepaar mit  blauem „Merkel muß weg“-Schild: „Wir sind einfach hier, weil wir uns für ein Ende der Vorschriften aussprechen, denn Freiheit heißt für uns auch Selbstbestimmung. Das Schild ist übrigens schon zwei oder drei Jahre alt, die Forderung aber immer noch aktuell.“