© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Eine Eskalationsstufe übersprungen
USA: „Black Lives Matter“-Protest, tödliche Schüsse eines Teenagers in Kenosha und weitere Plünderungen
Jörg Sobolewski

Als in der US-Stadt Kenosha wieder Schüsse fallen, trifft es keine Schwarzen. Ein Weißer, mit siebzehn Jahren zu jung um Bier zu kaufen erschießt zwei weiße Randalierer und verletzt einen dritten schwer. Der junge Kyle Rittenhouse hatte zuvor mit anderen Mitgliedern seiner Bürgerwehr versucht, einen Gemischtwarenladen, der in der Nacht zuvor von schweren Ausschreitungen betroffen war, vor weiteren Beschädigungen zu schützen. 

Vor seinen Schüssen wurde der Teenager möglicherweise mit einer brennbaren Flüssigkeit beworfen und am Kopf mit einem Skateboard getroffen. Sein Verteidiger spricht von Notwehr, ein aufgeheizter Mob im Internet von „Exekution“. Auffällig ist neben dem jungen Alter des Schützen auch die Hautfarbe aller Beteiligten. 

Biden und Trump nehmen die Randale gerne auf

Ausgelöst wurden die „Black Lives Matter“-Proteste in der Stadt in Wisconsin durch Schüsse auf den Afroamerikaner Jacob Blake, dessen Verhaftung durch zwei Polizisten katastrophal fehlschlug. Doch hier im relativ weißen Minnesota, in der Nähe von Chicago, sind die Proteste zu einer nahezu weißen Sache geworden. Lediglich zehn Prozent der Einwohner geben als ethnische Selbstbezeichnung  schwarz an, der Löwenanteil ist mit nahezu achtzig Prozent weiß. 

Die Ausschreitungen in Kenosha oder auch der tödliche Schuß auf Aaron J. Danielson im Zuge der „Trump 2020 Cruise Rally“ Samstag nacht in Portland, bei der bis Dienstag noch kein Tatverdächtiger ermittelt wurde, geben die ganze verwirrende Lage in einer Nation wieder, die sich am Vorabend der Präsidentschaftswahl so zerrissen zeigt wie selten. Linksradikalen Gruppierungen, die in einigen Städten bereits im Sommer ihre autonomen Zentren etablieren konnten, ist es teilweise gelungen, den afroamerikanischen Protest gegen verfehlte Polizeiarbeit zu kapern. 

Demonstriert wird daher mittlerweile nicht mehr nur für „schwarze Leben“, sondern auch für „schwarze, transsexuelle Leben“ („Black Trans Lives Matter“), für illegale Einwanderer oder ganz allgemein für ein „Ende des Kapitalismus“. Die mangelnde zentrale Führung der Bewegung ermöglichte dieses Ausfasern in alle Richtungen, und von demokratischen Präsidentschaftskandidaten bis zur Antifa wird das regelmäßige Aufflackern und Eskalieren von Demonstrationen als Zeichen für einen Linksruck des ganzen Landes gesehen.

 Obwohl sich schließlich das Kandidatenduo aus Joe Biden und seiner Vize, Kamala Harris, als betont staatstragend auf dem Parteitag der Demokraten präsentierte, forderten Diskussionsteilnehmer und große Teile der Basis ein Ende des Kapitalismus und einen Totalumbau der amerikanischen Gesellschaft. 

Die politische Rechte in den USA hat diesen Ball dankbar aufgenommen. Präsident Donald Trump warnt gebetsmühlenartig seit Wochen vor einem gesellschaftlichen Umsturz, der unweigerlich durch diese Proteste im Werden begriffen sei. Der einzige Schutz davor: seine Wiederwahl. Sein demokratischer Gegenkandidat, Joe Biden, sei hingegen ein „Trojanisches Pferd“ der radikalen Linken. Der republikanische Nominierungsparteitag trug infolgedessen Züge einer Weltuntergangsstimmung. Viele US-Amerikaner glauben ihrem Präsidenten, bereits zu Beginn der Corona-Krise meldeten Waffenhändler im ganzen Land Rekordumsätze, seit den Ausschreitungen in vielen Orten des Landes wird vereinzelt sogar die Munition knapp.

Drei Monate nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd, dessen Verhaftung die Proteste auslöste, sind die Vereinigten Staaten hochgerüstet und hochgradig polarisiert. Umfragen zufolge ist der Anteil derer, die die Proteste positiv sehen, mit 49 Prozent zwar stark, der Anteil derjenigen, die die Proteste ausdrücklich ablehnen mit 38 Prozent aber ebenfalls bedeutsam. Lediglich zwölf Prozent geben an, noch keine klare Meinung zu haben. Mit jeder Umfrage schrumpft die Zahl der Unsicheren, während die Zahl der Befürworter stagniert. Auch unter den ethnischen Minderheiten ist die Stimmung weniger eindeutig, als es die politische Linke mitunter darstellt. Zwar unterstützen 87 Prozent der Afroamerikaner die Proteste, aber lediglich 64 Prozent der Latinos. Bei Asiaten und Indigenen sind es nur noch 58 Prozent die sich an die Seite der Protestierer stellen – mit abnehmender Tendenz, wie selbst die traditionell regierungskritische Washington Post anmerkt.

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