© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Literarische Erweckung des ökologischen Gewissens
Prekäres Eingebundensein
(wm)

Die poetische Darstellung der Natur ist so alt wie die Dichtung selbst. Neu am „Nature Writing“, einem Genre, das in Henry David Thoreaus „Walden“ (1854) zwar einen schon recht bemoosten Gründungstext vorweisen kann, das aber im Sog des Ökologie-Diskurses seit zwei Jahrzehnten gewaltig aufblüht, ist darum nicht die literarische Repräsentation von Natur. Sondern der Versuch, sie, in Abgrenzung von Naturschilderungen wie sie etwa die Romantiker pflegten, ohne weltanschauliche, religiöse, metaphysische Wahrnehmungs- und Deutungsraster zu erfassen, literarisch zu vergegenwärtigen und sie unter den Bedingungen forcierter ökonomischer Ausbeutung zu bewahren. Nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Eberhard Ostermann ist das der Berliner Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky mit dem Prosastück „Hafen von Greifswald“, erschienen in ihrem Essayband „Verzeichnis einiger Verluste“ (2018, JF 2/18-1/19), vorbildlich gelungen (Weimarer Beiträge, 2/2020). Obwohl auch Schalanskys Schreibübung nicht frei sei von verniedlichenden Passagen und sie in der Gefahr des Abgleitens in Wunschphantasien von der scheinbar „unberührten Natur“ stehe, vermeide sie unterm Strich doch, wogegen sich die Poetik des „Nature Writing“ am entschiedensten wende: die klischeehafte Idyllisierung der Natur. Nur wenn Literatur solcher Versuchung harmonisierender Darstellung widerstehe, rege sie mit naturwissenschaftlich präzisen, trotzdem subjektiven, die Landschaft mit allen Sinnen registrierenden Beschreibungen den Leser an, sich seines heute höchst prekären Eingebundenseins in den Naturzusammenhang bewußt zu werden. 


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