© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Die „Reichskirche“ war tot
Wächteramt: Vor 75 Jahren gründete sich der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands
Gernot Facius

Drei Tage im Spätsommer vor 75 Jahren: An ihnen wurde evangelische Nachkriegskirchengeschichte geschrieben. Die Männer in abgewetzten Anzügen, die Ende August 1945 im nordhessischen Städtchen Treysa ankamen, hatten nicht nur Kartoffeln im Gepäck, sondern auch Pläne für einen Neuanfang ihrer Kirche – Pläne, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten.

Nur 47 Teilnehmer waren zu der Konferenz angemeldet, am Ende kamen 120 aus allen Teilen Deutschlands inklusive der sowjetischen Besatzungszone. Ihnen standen wenig erbauliche Debatten bevor. Die „Reichskirche“ war tot. Es ging um einen totalen Neubeginn. Einig war man sich nur darin, daß an die Stelle der alten staatsfixierten „Deutschen Evangelischen Kirche“ eine anders strukturierte Dachorganisation treten mußte.

Auf dem Tisch lagen höchst unterschiedliche Konzepte. Hans Meiser, der bayerische Landesbischof, strebte eine Konfessionskirche der Lutheraner an, Reformierte und Unierte wären in ihr nur am Rande vorgekommen. Martin Niemöller, der spätere hessen-nassauische Kirchenpräsident, plädierte für eine, wie man heute sagen würde, „Kirche von unten“, eine politisch engagierte Gemeindekirche. Der impulsive ehemalige U-Boot-Kommandant, von 1938 bis 1945 als „persönlicher Gefangener des Führers“ im KZ, blieb seiner Vorstellung treu, daß die missionarische Arbeit der bekenntnistreuen Protestanten auf gemeindlicher Ebene beginnen müsse. Er versuchte die Bekennende Kirche als die alleinige Kraft der moralischen Erneuerung anzupreisen, als das „tragende Gerüst“ für die künftige organisatorische Reform.

Anerkennung deutscher Schuld

Das ging den lutherischen Delegierten gegen den Strich, man befand sich plötzlich wieder in den Schützengräben des Kirchenkampfes. „Vulkan Niemöller“ und „Eisberg Meiser“, so wurden die Kontrahenten genannt, gerieten mehrmals aneinander. Vorübergehend ging es zu wie auf einem Parteitag. Delegierte verließen Türen knallend den Saal. Die Konferenz drohte zu platzen.

Daß es nicht dazu kam, ist, wie aus den Akten hervorgeht, vor allem der Moderation des Stuttgarter Bischofs Theophil Wurm zu verdanken. Ein „vorläufiger Kompromiß“ betonte die Eigenständigkeit der Landeskirchen. Wurm wurde der erste Ratsvorsitzende der EKD, Niemöller sein Stellvertreter.  „Ohne eine Handvoll von echten kämpferischen Männern wäre diese Tagung ein Tal verdorrter Gebeine gewesen“, formulierte in Anlehnung an Hesekiel 37, 1-14 der von der britischen Militärregierung entsandte Oberst Russell L. Sedgwick, ein von der anglikanischen Kirche zum Katholizismus konvertierter Beobachter.

In Treysa wurde auch über die Anerkennung deutscher Schuld gestritten, aber erst am 18. Oktober 1945 verabschiedete der Rat die „Stuttgarter Schulderklärung“, die Anklage, daß „wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Doch zugleich nahmen ihre Autoren in Anspruch, „lange Jahre hindurch“ gegen jenen „Geist“ gekämpft zu haben, der im NS-Gewaltregime seinen Ausdruck gefunden habe. Der Text fand die Unterstützung aller kirchlichen Strömungen, die sich sieben Wochen zuvor noch erbittert bekämpft hatten.

In einer Rückschau auf Treysa wird der aktuelle Ratsvorsitzende, Heinrich Bedford-Strohm, ein Dreivierteljahrhundert später sagen: „Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke – aber eine erstaunlich wetterfeste.“ Das klingt etwas positiver als das Urteil des früheren Bischofs Hartmut Löwe, zeitweise Bevollmächtigter der EKD bei der Bundesregierung und der EU. Löwe nannte den Bund aus Lutheranern, Unierten und Reformierten salopp einen Dachverband „fürs politisch Grobe“ – eine Anspielung auch darauf, daß die EKD keine originäre Kompetenz für Theologe und Bekenntnis besaß, auch wenn bald eine „Kammer für Theologie“ existierte.

Das Kürzel stand von Anfang an für ein großes Mißverständnis. Entgegen der sprachlichen Anmutung war die EKD keine Kirche, sondern ein Zusammenschluß teils grundverschiedener Landeskirchen zur Bewältigung bestimmter Gemeinschaftsaufgaben. Eine verfassungsgebende Versammlung verabschiedete im Juli 1948 im thüringischen Eisenach einstimmig eine „Grundordnung“. In ihr wurde die EKD als „Bund eigenständiger und konfessionsverschiedener Kirchen“ definiert. Erst 72 Jahre später, 2020, suchte man mit einem neuen Artikel 1 der Grundordnung eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die EKD auch im theologischen Sinne „Kirche“ sei.

Ein Machtapparat entmündigt die Gemeinden

Seitdem versteht sich die Vereinigung von 20 Landeskirchen mit 20,7 Millionen Mitgliedern als „die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen“ – als Teil der einen Kirche Christi. „Sie ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen Kirche.“ Mit ihren ungezählten Denkschriften und Stellungnahmen, in denen sie sich auf ein „Wächteramt“ gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beruft, hat sich die EKD aus eigenem Antrieb auf die Rolle einer von vielen Kräften in der pluralistischen Gesellschaft reduziert.

Sehr scharf stellte sich die Frage nach der Legitimität kirchlichen Handelns, denn Bischöfe, Kirchenpräsidenten und auch Synoden haben für die Lösung politischer und ökonomischer Probleme keine besondere Kompetenz aufzuweisen. Viele selbsternannte Propheten tun aber so, als verfügten sie über Patentrezepte. Mit einer Überdehnung des „Wächteramtes“ entfernen sich kirchliche Sprecher von dem alten Grundsatz, daß Christen in weltlichen Fragen durchaus unterschiedlicher Meinung sein können, daß keine dieser Anschauungen den „Charakter einer andere Meinungen ausschließenden Heilslehre gewinnen dürfen“, wie einst Barthold C. Witte, bis Ende 1997 Ratsmitglied, in den „Evangelischen Kommentaren“ zu bedenken gab. In anderen Worten: Man begibt sich sonst des Anspruchs, Kirche für alle zu sein.

Woran die evangelische Kirche in Deutschland krankt, ist leicht auszumachen: Eine Entmündigung der Gemeinden durch einen bürokratischen Machtapparat, der wirkliche Auseinandersetzungen nach Möglichkeit schon im Keim erstickt. Den kirchlichen Frieden zu bewahren und den Apparat zu schützen sei wohl eines der vornehmsten Gebote in den meisten deutschen Landeskirchen, befanden bereits in den 1990er Jahren einige Theologen und Synodalen. Vom gerne zitierten Priestertum aller Gläubigen sei wenig übriggeblieben, weil die Hauptamtlichen, die „Kirchenbeamten“, den Ton angäben.

Im aktuellen „EKD-Zukunftspapier“, so hat der Fernsehjournalist und Autor Markus Spieker herausgefunden, kommen die Worte „Jesus“ und „Christus“ insgesamt nur fünfmal vor, dafür „sozial“ 13mal, „Gesellschaft“ 27mal und „Kirche“ 124mal. „Hilfe, sie haben Jesus geschrumpft“, titelte das evangelikale Magazin idea. Spiekers beobachtete folgendes: „Wenn deutsche Pfarrer über das Leben und Wirken des Messias predigen, klingen sie oft so, als würden sie die Märchen von Hans Christian Andersen auslegen. Sie geben nur weiter, was sie im Theologiestudium gelernt haben.“

Auch der mecklenburgische Pastor Uwe Holmer, der 1990 international Bekanntheit erlangte, weil er zweieinhalb Monate Gastgeber des obdachlos gewordenen Ex-DDR-Staatschefs Erich Honecker war, weist auf die theologischen Schwachstellen hin. Viele Menschen träten aus der evangelischen Kirche aus, weil sie nur noch eine innerweltliche Botschaft verbreite, schrieb Holmer jüngst an den Bedford-Strohm. „Dadurch macht sie sich letztlich überflüssig.“ Gepredigt werde nur noch ein „gnadenloser Moralismus“. Eine Kirche, die nicht mehr von der Ewigkeit spreche, habe „nichts Wesentliches mehr zu sagen“. Der württembergische Theologe Professor Rolf Hille bringt das Problem der EKD auf die Formel: „Noch immer sind die Kassen voll, aber die Gotteshäuser leer. Nicht nur wegen Corona.“ 

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