© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Kinder zu Objekten gemacht
Netflix: Der Film „Cuties“ bedient die Mechanismen von Sexualisierung, anstatt sie anzuprangern
Martin Voigt

Elfjährige Mädchen in knappen Pants und bauchfreien Tops tanzen und räkeln sich auf der Bühne. Gesten sexueller Verfügbarkeit wie in einem Hip-Hop-Video. Im Publikum die Mütter der Mädchen, teils mit Kopftuch und Schleier. „Was für ein Kulturschock“, findet die Regisseurin Maïmouna Doucouré. Diese Szene auf einem Straßenfest in Paris sei der Impuls zu ihrem Film „Cuties“ gewesen, berichtet sie in einem Interview mit cineuropa.

Es soll ein kompromißloses Porträt dieser hypersexualisierten Mädchenkultur sein. Die Filmemacherin will eintauchen in die Welt der Mädchen, zeigen wie sie sind, ihnen zuhören, sie verstehen – und eine Debatte anstoßen. Als das Streaming-Portal Netflix Doucourés Film „Mignonnes“, der im Januar 2020 auf dem Sundance Filmfestival Premiere feierte, unter dem Titel „Cuties“ ankündigt, ist die Debatte da, und was für eine. Netflix hatte voll auf die „Sex sells“-Karte gesetzt und für „Cuties“ eine entsprechend provokante Plakat- und Trailer-Kampagne veröffentlicht. Das Plakat zeigte die Mädchen in solch knappen Outfits, wie es das amerikanische Publikum allenfalls vom NBA-Cheerleading kennt.

Verklärung der Hauptfigur als Rebellin

„Die elfjährige Amy“, so hieß es in der Netflix-Vorschau, „schließt sich voller Faszination einer sexy Tanzcrew an und entdeckt dabei ihre Weiblichkeit“. In der englischen Ankündigungsversion war von einer „twerking dance crew“ die Rede. „Twerking“ meint eine sexuell provokante Tanzform, bei der es darum geht, möglichst aussagekräftig mit dem Gesäß zu wackeln.

Petitionen gegen Netflix ließen nicht lange auf sich warten. Sogar die ehemalige Pornodarstellerin Jenna Jameson rief zum Boykott des Films auf. Netflix hat sich entschuldigt, das Plakat geändert und sieht dem Filmstart munter entgegen – der Aufregung sei Dank.

Darf man minderjährige Mädchen filmen, die wie Stripperinnen tanzen, und diesen Film einem breiten Publikum zeigen? Wie glaubwürdig ist es, eine Debatte über Sexualisierung anstoßen zu wollen und zugleich mit voyeuristischer Kameraführung Geld zu verdienen? Die plumpe Sex-Kampagne werde dem preisgekrönten Film nicht gerecht, hieß es in der Entschuldigung von Netflix. Ist die cineastische Botschaft also tiefgründig und nur die Werbung schoß übers Ziel hinaus? Viele Fragen.

Zunächst zum Film: Die elfjährige Amy zieht mit ihrer Mutter und zwei Brüdern aus dem Senegal nach Paris. An ihrer neuen Schule fällt ihr eine Mädchenclique auf, die sich die „Cuties“ nennt und dies eindeutig sexuell meint. Kurze Röcke, Gerede über Sex, Pornos im Internet, aufreizende Selfies in den sozialen Medien und Proben für Tanzwettbewerbe bestimmen den Schulalltag. Amy ist fasziniert und schließt sich den „Cuties“ an, während es daheim streng moslemisch zugeht. Hier stehen Gebetstreffen auf der Tagesordnung, die Vorbereitung der Mädchen auf Gehorsam in der Ehe und die Planung einer Hochzeit: Amys Vater und seine zukünftige Zweitfrau kommen nach Paris.

Amys Mutter soll die Vermählung ausrichten und das schönste Zimmer in der kleinen Wohnung vorbereiten. Just am Tage der Hochzeit soll das finale Vortanzen stattfinden. Amy pendelt zwischen den Extremen, schafft aber beide Termine. Der moslemische Vater kann heiraten, und beim Tanzfinale sind die westlichen Männer begeistert von Amy und ihren Cuties. Verletzt und empört sind jeweils nur die Frauen.

Genauso plump wie der Plot ist die politische Lesart, die die Religion mal eben ausklammert. Frauen sind gut, Männer böse. Wenn Amy sich einer „Mädchentanzgruppe“ anschließt, wie etwa die Rheinische Post schreibt, um ihrem „konservativen Haushalt“ zu entfliehen und „gegen die Traditionen ihrer Familie“ zu rebellieren, dann ist das etwa so, als ob in einem Täterprofil dieser Tage von „einem Mann“ die Rede ist.

Eingeschränkt ist auch der feministische Blick auf die Sexualisierung von Mädchen. Von „sexual empowerment“ ist da die Rede: selbstbewußte Mädels, die heute so freizügig leben und Normen brechen können, wie sie wollen. Dumm nur, daß Männern das gefällt und die Mädchen dabei irgendwie zum „Objekt“ werden.

Die in „Cuties“ gezeigte (Selbst-)Sexualisierung von jungen Mädchen ist keine Übertreibung. Die sozialen Medien sind voll mit selbstgedrehten Online-Clips kleiner Mädchen, die ihrem Gehabe nach allesamt den Cast bestanden hätten. Doucouré provoziert, weil sie zeigt, wie es ist. Jedoch: Kein dokumentarisch zurückhaltender Kameraschwenk, stattdessen sich windende Mädchenkörper in Nahaufnahme. Doucouré potenziert, was sie zu kritisieren vorgibt. Sie schafft eine viel größere Bühne als damals auf dem Straßenfest in Paris und idealisiert Amy als Rebellin. Die Cuties bestätigen die Lebenswelt des Netflix-Publikums, anstatt diese in Frage zu stellen. Eine Debatte über die Mechanismen von Sexualisierung kann so nicht gelingen.