© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Die unheimliche Wiederkehr der DDR 30 Jahre nach der Wiedervereinigung
Bekannt in neuem Gewand
Gerd Seidel

Oft wird die Frage aufgeworfen, warum sich das Wahlverhalten der Bürger in den neuen Bundesländern auch noch nach drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung von dem im Westen des Landes signifikant unterscheidet und warum viele der ehemaligen DDR-Bürger der derzeitigen Regierungspolitik kritischer gegenüberstehen als in den alten Bundesländern.

Die Antwort ist gewiß nicht in einen Satz zu fassen. Eine wesentliche Ursache für diese Unterschiedlichkeit scheint aber darin zu liegen, daß sich die Menschen in den neuen Ländern heute mit Entwicklungserscheinungen konfrontiert sehen, die sie als überwunden glaubten. Vieles von dem, was sie heute sehen und erleben, kommt ihnen aus DDR-Zeiten bekannt vor. Tatsächlich hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel in den 15 Jahren ihrer Regierungszeit geschafft, manche Seiten der DDR in der Erinnerung der Menschen wieder aufleben zu lassen:

1. Daß die Meinungsfreiheit – ungeachtet ihrer verfassungsmäßigen Verankerung – in der DDR nicht gewährleistet war, bedarf hier keiner gesonderten Begründung. Wer abweichende Meinungen zu den von der Parteiführung vorgegebenen Positionen vertrat, wurde – wenn er nicht „Selbstkritik“ übte – schnell als Handlanger des Klassenfeinds, das heißt des Imperialismus oder Faschismus, stigmatisiert und hatte sich gegebenenfalls strafrechtlich zu verantworten.

Nach der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes ist die Meinungsfreiheit von herausragender Bedeutung und konstitutiv für die Demokratie. Deshalb muß es hochbedenklich stimmen, wenn nach jüngeren Meinungserhebungen mindestens zwei Drittel der Deutschen die Auffassung vertreten, daß man in Deutschland nicht mehr offen seine Meinung äußern könne, ohne berufliche oder andere Nachteile bis hin zur Existenzvernichtung befürchten zu müssen. Wer öffentlich Kritik an Kernfragen der Regierungspolitik, wie zum Beispiel an der Flüchtlings-, Klima- oder Energiepolitik, übt, muß damit rechnen, sozial ausgegrenzt oder als fremdenfeindlich, rechtsextrem, rassistisch und ähnlich diffamiert zu werden.

Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hatte im Zusammenhang mit dem von einem Immigranten in Chemnitz begangenen Mord vor zwei Jahren die Vorgänge danach wahrheitsgemäß – aber in Abweichung von der Darstellung des Kanzleramts – berichtet und wurde daraufhin in den einstweiligen Ruhestand versetzt. In ähnlicher Weise wurde mit dem Träger des Lessingpreises Jörg Bernig verfahren, der nach seiner ordentlichen Wahl zum Kulturamtsleiter von Radebeul abberufen wurde, weil er sachliche Kritik an der Flüchtlingspolitik geübt hat.

Solche Fälle verfehlen nach einer chinesischen Regel nicht ihre Wirkung: Die Bestrafung eines einzelnen erzieht hundert andere. Die Folge ist, daß viele in die innere Immigration gehen und die große Herde der schweigenden Lämmer bilden.

Es kann daher nicht verwundern, daß bei Ostdeutschen hier alte, ungute Erinnerungen wach werden und sie besonders sensibel reagieren. Bemerkenswert ist dabei, daß damals wie heute alle auf den Kampf gegen den „rechten“ Gegner eingeschworen werden.

Hatten bisher die sozialen Medien wie Facebook, Youtube und Twitter einen Zufluchtsort zum ungehinderten Meinungsaustausch geboten, so sind diese Foren durch zwei Gesetze von 2017 und 2020 unter staatliche Aufsicht und damit die Meinungsfreiheit unter Kontrolle gestellt worden. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von Oktober 2017 sorgt mit drakonischen Strafandrohungen gegenüber den Betreibern der Medien dafür, daß kritische Äußerungen von Bürgern als „Haßreden“ oder „Hetze“ gelöscht werden. Dabei wird die Bewertung dieser unbestimmten, weit auslegbaren Begriffe unzulässigerweise den privaten Betreibern der Medien übertragen, obgleich diese Befugnis nach rechtsstaatlichen Maßstäben nur einem Richter zusteht.

Das Gesetz von 2020 zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Haßkriminalität schränkt die Grundrechte der Bürger noch weiter ein. Es verpflichtet die sozialen Medien, vermeintliche Haßmitteilungen nicht nur zu löschen, sondern darüber hinaus dem Bundeskriminalamt die Namen der inkriminierten Verfasser solcher Mitteilungen, einschließlich deren IP-Adresse und der Portnummer, zum Zwecke der Strafverfolgung zu melden. So werden die Teilnehmer am digitalen Meinungsaustausch zu gläsernen Menschen gemacht.

Im Ergebnis werden viele von ihnen – wie im nichtdigitalen Bereich – verunsichert und aus Furcht vor den im Gesetz angedrohten Gefängnisstrafen im Zweifel auf ihre Meinungsäußerung im Netz gänzlich verzichten. Auf diese Weise wird damit im digitalen Verkehr der Zustand hergestellt, der im täglichen zwischenmenschlichen Verkehr heute bereits Realität ist, wo ja bestimmte politische Meinungen oft nur noch hinter vorgehaltener Hand geäußert werden.

Dieser Mechanismus der Gesinnungskontrolle wird ergänzt durch ein vom Bundesamt für Verfassungsschutz eingerichtetes „Hinweistelefon Rechtsextremismus“, wo jedermann jederzeit anonym denunziert werden kann, ohne daß er sich dagegen wehren könnte. Dies gerät in direkte Nähe zur Gesinnungsdiktatur. Es kann daher nicht verwundern, daß bei Ostdeutschen hier alte, ungute Erinnerungen wach werden und sie besonders sensibel reagieren, zumal in diesen Kontrollmechanismus ähnlich wie früher neben den staatlichen Behörden auch Gewerkschaften, Unternehmen und die sogenannte Zivilgesellschaft eingebunden sind. Bemerkenswert ist dabei, daß damals wie heute alle auf den Kampf gegen den „rechten“ Gegner eingeschworen werden.

2. Die DDR-Verfassung postulierte gleich in Artikel 1 die „führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Sie umschrieb damit die Allmacht, das heißt die Diktatur des Politbüros der SED unter Führung von zuletzt Erich Honecker, das sich als die Vorhut der Arbeiterklasse gerierte. Eine Gewaltenteilung oder andere rechtsstaatliche Sicherungen gab es darin nicht. Die Verfassung spielte in der DDR insgesamt eine nachgeordnete Rolle.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bildet die solide Grundlage und den Leitfaden für die Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens. Sie galt auch als Vorbild für die Verfassungsgebung in anderen Staaten.

Allerdings weicht die Verfassungswirklichkeit seit der Amtsübernahme von Frau Merkel im Jahr 2005 zum Teil erheblich von dem grundgesetzlichen Leitbild ab. So hat Merkel mit ihrem erratisch-autoritären und vorrangig auf Machterhalt ausgerichteten Regierungsstil der Gewaltenteilung sukzessive eine deutliche Schlagseite zu Lasten der Legislative versetzt: Das Parlament, das mit einer Ausnahme kaum noch eine substantielle Opposition bietet, wurde in eine die Regierungsbeschlüsse vollziehende Akklamationsrolle gedrängt oder gar nicht erst gefragt. Dabei sollte es als Repräsentant des Souveräns in der Arithmetik der Demokratie eigentlich die Dominante sein.

So hat sich Merkel zum Beispiel im September 2015 selbstherrlich und unter Berufung auf eine angeblich höhere Moral ohne Einschaltung des Bundestages für eine Verletzung von Verfassung (Art. 16a), Asylgesetz und EU-Recht entschieden und die Grenzen für die massenhafte Immigration kulturfremder Menschen geöffnet und seither für sie offen gehalten – mit allen sich daraus ergebenden Folgen für die innere Sicherheit, die Sozialkassen und den sozialen Frieden. Ein anderes Beispiel für die Politik der radikalen Beliebigkeit, die Merkel mit ihrer links begrünten CDU und mit Unterstützung der anderen linken Parteien betreibt, ist der jähe Ausstieg aus der Kernenergie, der die Stromversorgung unsicherer und für die Bürger zur teuersten in Europa hat werden lassen. Solche einsamen Entscheidungen ohne ökonomische Folgeabwägungen sind den Ostdeutschen aus der DDR-Diktatur wohlbekannt.

So hat der Bundesbürger mit DDR-Hintergrund auch hier ein Déjà-vu-Erlebnis: Wie vor 1989 wird ihm heute in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen eine Welt präsentiert, die nicht oder nur bedingt mit der Realität über-einstimmt.

Ihr Demokratieverständnis legte die Kanzlerin vor aller Welt offen, als sie von Südafrika aus dekretierte, daß die auf demokratischem Weg erfolgte Wahl eines thüringischen FDP-Ministerpräsidenten „rückgängig“ zu machen sei, weil die Wahl mit den Stimmen der AfD zustande gekommen war. Honecker hat mißliebige Wahlergebnisse fälschen lassen, Merkel erklärt sie kurzerhand für ungültig. In beiden Fällen geschah das jeweils mit Zustimmung der „Blockparteien“ und der allermeisten Medien. So entstand in der Merkel-Ära eine Fassadendemokratie.

3. In der DDR erhielten Presse und Fernsehen vom Politbüro genaue Vorgaben über Inhalt und Rahmen der politischen Meldungen und Kommentare. Diese mußten befolgt werden.

Die bundesrepublikanischen Funk- und Printmedien benötigen derartige Vorgaben nicht. Sie schreiben und senden in der großen Mehrzahl per se regierungskonform. Grundsätzliche Kritik an Merkels Politik gilt quasi als Majestätsbeleidigung und hat zu unterbleiben. Die Verquickung von Politik und Medien erklärt sich daraus, daß die deutschen Medien größtenteils zu Domänen der Grünen und Sozialdemokraten geworden sind, daß die Parteienvertreter in den Rundfunkräten für sie kritische Beiträge verhindern und daß Frau Merkel mit Friede Springer und Liz Mohn als zwei im Pressewesen einflußreichen Frauen befreundet ist.

So wird geschrieben und gesendet, was sein soll, nicht, was ist. Die journalistisch maßgebliche Unterscheidung zwischen wahr und unwahr wurde längst durch gut (links) und böse (rechts) abgelöst. Nicht Neutralität, sondern die Erzeugung linksgrüner Haltung und Gesinnung bei den Konsumenten wird als Aufgabe der Journalisten gesehen. Sie haben – wie in der DDR – die Rolle von Volkserziehern übernommen, die beim Zuschauer und Leser einen Gruppendruck mit dem Ziel erzeugen sollen, linksgrüne Ansichten als unverrückbare Weisheiten zu übernehmen. Im Prozeß dieser Indoktrination schreckt man auch nicht davor zurück, die deutsche Sprache nach den Dogmen der Politischen Korrektheit, insbesondere aber auch des „Gender“-Unsinns, zu verunstalten.

So hat der Bundesbürger mit DDR-Hintergrund auch hier ein Déjà-vu-Erlebnis: Wie vor 1989 wird ihm heute in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen eine Welt präsentiert, die nicht oder nur bedingt mit der Realität übereinstimmt. Abgesehen von wenigen Presseerzeugnissen stößt er meist auf einseitige, eintönige und eintöpfige Beiträge, die von Zeitung zu Zeitung meist austauschbar sind. Im Fernsehen heißen die Nachfolger des DDR-Einheizers Karl-Eduard von Schnitzler nun Slomka, Restle, Reschke, Will oder Kleber. Viele Ostdeutsche wenden sich davon gelangweilt oder angewidert ab, müssen aber dennoch monatlich 17,50 Euro dafür bezahlen. Auch der hinzu gewonnene Wohlstand kann somit nicht verdecken, daß Ostdeutsche heute im vereinten Deutschland zunehmend die Konturen der DDR wiedererkennen.






Prof. em. Dr. Gerd Seidel, Jahrgang 1943, war bis 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker-und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die „Justiz als Stiefkind der Politik“ („Recht ohne Lobby“, JF 22/20).

Foto: Impression von der größten nichtstaatlichen Demonstration der DDR in Ost-Berlin am 4. November 1989: Die „Freiheit des Wortes“ war eine zentrale Forderung der DDR-Bürgerrechtsbewegung