© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Vorsorge für den Ernstfall in 50.000 Jahren
Trotz Atomausstieg will Deutschland zumindest in der Endlagerforschung international weiter mitspielen
Christoph Keller

Der 2011 unter schwarz-gelber Regierung beschlossene beschleunigte Atomausstieg stieß damals auf breite öffentliche Zustimmung. Dies entsprang nicht nur der Panikreaktion nach der Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Seit über vier Jahrzehnten stimmen in Meinungsumfragen bis zu drei Viertel der Befragten gegen diese Form der Energieerzeugung. In Österreich war diese Ablehnung schon 1978 amtlich: Damals sprachen sich 50,5 Prozent in einer Volksabstimmung und auf Empfehlung von ÖVP wie FPÖ gegen die Inbetriebnahme des fertiggestellten Atomkraftwerk (AKW) Zwentendorf bei Wien aus – entgegen dem Willen von Wirtschaft, Gewerkschaften und der alleinregierenden SPÖ.

Trügerische Ruhe an der Anti-AKW-Protestfront

Zu dieser kollektiven Furcht haben nicht nur Umweltschützer, DDR-Einflußagenten und Medien, sondern auch Politik und Energiewirtschaft durch den dilettantischen Umgang mit der „Atommüll“-Entsorgung beigetragen, findet die Wissenschaftsjournalistin Verena Tang (Spektrum der Wissenschaft, 8/20). Welche Rolle die Macht der Bilder aus dem ehemaligen Salzbergwerk Asse II bei Wolfenbüttel dabei spielte, sei kaum zu überschätzen. Dort waren zwischen 1967 und 1978 gut 125.000 Fässer mit schwach bis mittel radioaktivem Abfall eingebracht worden. Die Schlamperei begann schon mit der mangelhaften Dokumentation dessen, was „in der Asse“ verschwand und setzte sich fort bei der unsachgemäßen Lagerung.

Weil sich die Strahlenbelastung für die Arbeiter beim Aufstellen der Fässer als zu hoch erwies, kippte man sie ab 1971 kurzerhand mit Radladern in den Stollen – ohne Rücksicht darauf, ob dabei die Behälter aufplatzen würden. Berichte über Einsturzgefahren in der Schachtanlage bereiteten ihr das verdiente Aus. Der Bundestag beschloß 2013, alle dort eingelagerten radioaktiven Abfälle zurückzuholen. Derzeit untersucht die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), wo für das Material ein neuer Schacht entstehen könnte. Nicht zur Disposition steht das Ex-Salzbergwerk Morsleben südwestlich von Magdeburg, das schon der DDR als Lager diente. Das Bundesamt für Strahlenschutz nutzte es bis 1998 weiter und so birgt es heute zu einem Bruchteil der eingelagerten 36.754 Kubikmeter „Atommüll“ auch hochradioaktive Abfälle.

Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) plant, Morsleben stillzulegen und daraus ein Endlager zu machen, doch es fehlt die Genehmigung. Noch weniger als Umzugsadresse für den Asse-II-Abfall scheint der zum Symbolort für die Anti-AKW-Bewegung aufgerückte Salzstock in Gorleben zu taugen, den die rot-gelbe Bundesregierung 1977 zum Endlager erkor, um es unter starkem öffentlichem Druck 1979 flugs zum „Erkundungsbergwerk“ umzuwidmen.

Aber auch dagegen formierte sich massiver Widerstand, der sich versteifte, als in Gorleben mit den „Castor-Transporten“ wiederaufbereiteter AKW-Abfall zwecks Zwischenlagerung eintraf. Ruhe an der Protestfront kehrte erst ein, als Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2000 die Erkundungen für zehn Jahre stoppte. Die 2010 von der BGR fortgesetzten Untersuchungen endeten 2012 – im Schatten von Fukushima.

2013 wurden die Karten im milliardenschweren Endlagersuchspiel durch das Standortauswahlgesetz (StandAG) neu gemischt. Das StandAG schrieb fest, daß die Suche unter erheblich verschärften Anforderungen von vorn losgehen sollte. Bisher verfügt der Bund über nur ein potentielles, bereits 2002 atomrechtlich genehmigtes Endlager für schwach und mittel radioaktiven Atommüll – den Schacht Konrad, ein ehemaliges Erzbergwerk im Stadtgebiet von Salzgitter. Es soll 2027 den Betrieb aufnehmen. In diesem Herbst gibt die BGE nach siebenjähriger Prüfungsphase bekannt, welche Kandidaten aufgrund ungünstiger geologischer Gegebenheiten sie ausgemustert hat und welche als potentielle Endlager zu erkunden sind. Die definitive Standortwahl soll 2031 erfolgen, der erste „Atommüll“ könnte 2050 dorthin verfrachtet werden.

Unterirdisches Großlabor im Schweizer Pultberg

Um wesentliche Kriterien für eine solche Kandidatenauswahl zu ermitteln, beteiligt sich die BGR seit 1996 an einem internationalen Projekt in der Schweiz. Dort bietet der Pultberg (Mont Terri/Kanton Jura) ideale Bedingungen für ein unterirdisches Großlabor. Der 805 Meter hohe Berg selbst kommt als Endlager zwar nicht in Frage, weil seine Lage südlich des tektonisch unruhigen Oberrheingrabens garantiert, daß sich die Gesteinsschichten der Region in den nächsten Jahrtausenden verändern.

Aber ihn durchzieht eine 150 Meter dicke Schicht aus Toneisenstein (Opalinuston), die durch einen Sicherheitstunnel neben dem vier Kilometer langen Mont-Terri-Autobahntunnel für Forscher zugänglich ist. Opalinuston ist fast wasserundurchlässig – um einen Meter zu durchdringen, bräuchte es 317.000 Jahre –, hält strahlende Teilchen effektiv zurück und schließt Risse quasi von selbst. Daher scheint es sich hervorragend als Wirtsgestein für radioaktive Abfälle zu eignen. Um das zu verifizieren, prüfen die BGE-Wissenschaftler seit zwei Jahrzehnten, unter welchen Umständen der Ton radioaktive Abfälle für eine Million Jahre sicher einschließt. Verena Tangs Recherchen dokumentieren, wie aufwendig Experimente im Felslabor Mont Terri ablaufen, die einen Sicherheitsnachweis für diese unvorstellbare Zeitspanne erbringen wollen.

Denn der Opalinuston soll nur das letzte Hindernis zwischen dem radioaktiven Material und der Umwelt sein. In Langzeitversuchen simuliert wird der „Ernstfall“, der in 50.000 Jahren eintritt, wenn die den radioaktiven Abfall ummantelnden Stahlbehälter korrodieren und Radionuklide sich durch das Gestein bewegen. Um diesen Diffusionsprozeß zu verzögern, empfiehlt es sich, den Hohlraum zwischen Stollenwand und Stahlzylinder mit Betonitgranulat auszufüllen. Betonit, als Material für Katzenstreu bekannt, nimmt, wie experimentell bestätigt, Wasser aus den Poren des Tonsteins auf. Dabei quillt er auf und bildet eine klebrige Masse. Nach dem Bruch des Zylinders hält sie das Gros strahlender Nuklide zurück und läßt nur vereinzelte Teilchen im Ton­stein des Gebirges ankommen.

Auf andere Standorte sind die Mont-Terri-Resultate nicht einfach übertragbar, aber sie bieten methodische Grundlagen, um deren Eignung als Endlager fachgerecht zu beurteilen. Zudem leisten sie einen Beitrag, damit deutsche Spitzenforschung auch nach dem Atomausstieg Ende 2022 an internationalen Projekten, wenn schon nicht mehr zur Reaktorsicherheit, dann wenigstens zur Endlagerung beteiligt ist. Und verhindert auch, daß unter dem Druck „gewisser politischer Lager“, wie Dirk Bosbach (Forschungszentrum Jülich) im Interview mit Tang vorsichtig warnt, nicht weitere Expertise ins Ausland abwandert.

Endlagersuche des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung: www.endlagersuche-infoplattform.de

Schweizer Felslabor Mont Terri: www.mont-terri.ch