© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Bundestag wirbelt wegen Wirecard
Untersuchungsausschuß: AfD beansprucht Vorsitz
Jörg Kürschner

Politik bestätigt sich auch in Ritualen, zuletzt am gestrigen Donnerstag als FDP, Linke und Grüne ein weiteres Mal gemeinsam vor die Bundespressekonferenz zogen, um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu fordern. Zusammen verfügen die drei Oppositionsfraktionen über genug Stimmen, um den milliardenschweren Wirecard-Bilanzskandal im Bundestag aufzuarbeiten. Politik bestätigt sich auch in Traditionen, etwa in der Vergabe des Ausschußvorsitzes in fester Reihenfolge. Zum Verdruß von FDP, Linken und Grünen ist bei Wirecard die AfD dran.

Die größte Oppositionsfraktion hat für diese Funktion ihr Mitglied Kay Gottschalk nominiert. Als Kandidat war kurzzeitig auch dessen Kollege Roland Hartwig im Gespräch, als früherer Bayer-Chefjustitiar der Vorzeigejurist der Fraktion, aber eben kein Finanzpolitiker. Daß Gottschalk auf der Oppositions-Pressekonferenz nicht dabei war, hängt mit der Ausgrenzung seiner Partei zusammen. FDP, Linke und Grüne bleiben gern unter sich, haben sich seit der Bundestagswahl 2017 aneinander gewöhnt.

Vorsitz verlangt           Fingerspitzengefühl

Ihnen dürfte es aber schwerfallen, Gottschalk den Ausschußvorsitz streitig zu machen. Fachliche Kompetenz wird man dem 54jährigen Diplom-Kaufmann mit Doppelstudium Betriebswirtschaft und Jura nicht absprechen können. Die öffentlich geäußerten Vorbehalte gegen ihn kommen eher als laues Lüftchen daher verglichen mit Angriffen, denen AfD-Kandidaten in der Regel ausgesetzt sind. So zeigte sich Gottschalk im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT verhalten optimistisch, daß der Vorsitz auf ihn zuläuft. Die Kontakte mit Union und FDP scheinen stabil, die Linke wolle ihn ablehnen. In der SPD, seiner ehemaligen Partei, der er von 1982 bis 1991 angehörte, könnten Zustimmung und Enthaltung dominieren. Daß Gottschalk gerade im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf den früheren SPD-Kanzler Helmut Schmidt zu seinem politischen Vorbild erkor, sei aufmerksam registriert worden. Andererseits wenden Skeptiker in den eigenen Reihen ein, daß im Verhältnis der anderen Fraktionen zur AfD mittlerweile zuviel Porzellan zerschlagen worden sei.

Sollte Gottschalk ungeachtet dessen die Leitung des Untersuchungsausschusses übernehmen können, werde er sich ganz „in den Dienst der Sache stellen und mein Amt unparteiisch ausüben“, wie er immer wieder betont. Als Leiter der Bundestagsdelegation zur Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Wa-shington habe er im vergangenen Oktober Punkte sammeln können. Wenn es nach ihm ginge, könnte der Ausschuß eher heute als morgen mit der Arbeit beginnen. Es gehe ihm um eine lückenlose Aufklärung „aller unangenehmen Wahrheiten, denen sich auch viele in der Bundesregierung stellen werden müssen“. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bereits wegen Bilanzfälschung, Betrug, Marktmanipulation und Geldwäsche.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht etwa Bundesfinanzminister Olaf Scholz, dem die Finanzaufsichtsbehörde BaFin unterstellt ist. Er hätte genauer hinschauen müssen, heißt es. Ihr wird Versagen bei der Kontrolle des ehemaligen Dax-Konzerns vorgeworfen, der mit Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro im Juni pleite ging. Unzählige Aktionäre und Gläubiger verloren viel Geld. SPD-Kanzlerkandidat Scholz hat die Flucht nach vorn angetreten, macht selbst Reformvorschläge. Bei Unternehmen sollen künftig auch ohne konkreten Anlaß Sonderprüfungen durchgeführt werden, und diese sollen verpflichtet werden, ihre Wirtschaftsprüfer öfter zu wechseln. 

Eine Position, die Gottschalk teilt. Er denkt an einen Turnus von vier Jahren. Zusätzlich hat der Ressortchef noch mit dem Steuerskandal bei der Hamburger Warburg Bank zu kämpfen, der die Finanzverwaltung 2016 die Rückerstattung von 47 Millionen Euro erlassen hat. Als Hamburger Bürgermeister soll er politischen Einfluß genommen haben.

Die Arbeit des Ausschusses wird geprägt sein vom Wahlkampf im Vorfeld der Bundestagswahl im September 2021. Als Vorsitzenden würde Gottschalk einiges Fingerspitzengefühl abverlangt werden, denn die Parteien üben sich bereits in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Union gegen Scholz, SPD gegen Kanzleramt, da sich Amtschefin Angela Merkel (CDU) bei Gesprächen mit der chinesischen Regierung persönlich für das Skandalunternehmen Wirecard eingesetzt hatte. Solche „Flankierungen“ seien nicht ungewöhnlich, rechtfertigte sie sich auf ihrer Sommer-Pressekonferenz. Im Herbst 2019 sei von Unregelmäßigkeiten noch nichts bekannt gewesen. 

Der Flankenmann war ausgerechnet ihr einstiger Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der wegen seiner in weiten Teilen abgeschriebenen Doktorarbeit 2011 zurücktreten mußte. Die SPD und auch die Opposition haben Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) im Visier. Bei der Staatsanwaltschaft München sei eine Verdachtsmeldung des Zolls nicht bearbeitet worden, lautet der Vorwurf. Zudem gibt es Hinweise, der russische Geheimdienst könnte in die Wirecard-Pleite verstrickt sein. 

Ungeklärt scheint auch die Rolle der Frankfurter Börse. Der Untersuchungsausschuß biete Stoff für einen „Krimi als Mehrteiler“, ist sich Gottschalk sicher. Am Dienstag nominierte ihn seine Fraktion als ihren Mann für den Vorsitz des Ausschusses. In der zweiten Septemberhälfte soll der sich konstituieren.