© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Jenseits aller Viren
„Querdenken“: Die Bewegung setzt das Thema Friedensvertrag auf ihre Agenda
Björn Harms

Entlang der Debatten um den Sinn oder Unsinn der Corona-Maßnahmen rückt in den Kreisen rund um die „Querdenken“-Bewegung seit geraumer Zeit ein weiteres Thema in den Fokus. „In den letzten Wochen häuft sich ein Begriff, und ich habe ein Bauchgefühl, daß ich ihm nachgehen muß“, verlautbarte der „Querdenken711“-Frontmann Michael Ballweg schon am 8. August auf einer Veranstaltung in Stuttgart. Dieser Begriff laute „Friedensvertrag“. Er wisse zwar nicht, was an dem Thema dran sei, aber man müsse die Angelegenheit „prüfen und hinterfragen“. 

Auf der Corona-Demonstration in Berlin am 29. August konkretisierte Ballweg seine Vorstellungen deutscher Souveränität: Das Grundgesetz sei zwar das „Beste, was uns je passiert ist“, sagte er. Es habe uns jedoch im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie nicht davor beschützen können, „daß die Regierung sich immer weiter selbst ermächtigt“. Aktuell sei die verfassungsgebende Mehrheit eine Mehrheit aus Bundestag und Bundesrat. „Das heißt, die Bevölkerung wird nicht gefragt“, so der IT-Unternehmer. Es gebe aber einen wichtigen Artikel im Grundgesetz, der Abhilfe schaffen könne.

Gemeint war Artikel 146, laut dem das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Deshalb trete man, so Ballweg, für eine Verfassung ein, „die die Macht an uns, die Menschen, zurückgibt“. Eine Verfassung, die sich „der Souverän geben soll, nicht Bundestag und Bundesrat“.

Hierfür rief er alle Menschen nach Berlin, um an einer neuen Verfassung zu arbeiten. „Wir sind die verfassungsgebende Versammlung“, schloß er seinen Vortrag – ohne zu begründen, wodurch die Querdenken-Bewegung legitimiert ist, diese neue Verfassung auszuhandeln. Die Behörden machten dem geplanten 14tägigen Camp anschließend einen Strich durch die Rechnung. Die Versammlung wurde verboten, der Platz geräumt.

Michael Ballweg wird von Medien unter Druck gesetzt

Ballwegs Äußerungen jedoch wurden aus verschiedenen politischen Richtungen, die versuchen auf die Querdenken-Bewegung Einfluß zu nehmen, wohlwollend honoriert. In einer Nachbesprechung zur Corona-Demonstration etwa trafen der Querdenken-Youtuber Samuel Eckert auf Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer und den libertären Autor Oliver Janich. Sowohl Elsässer als auch Janich hoben lobend hervor, daß sich Querquenken-Chef Ballweg bereits kritisch zum Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Souveränität Deutschlands geäußert hätte. „Das heißt, im Grunde hat auch Michael Ballweg so eine Stimmung befördert, was auch nicht schlecht ist, wenn man das Thema Souveränität endlich auf den Tisch packt“, war sich Elsässer sicher.

Auch eine weitere Interessengruppe, die auf den Corona-Demonstrationen in großer Zahl präsent war, plädiert seit längerer Zeit dafür, eine neue Verfassung zu etablieren. Die Bewegung nennt sich „QAnon“. Eine größere Menge von ihnen sammelte sich am 29. August vor der amerikanischen Botschaft – und das hat Gründe.

Die Geschichte von QAnon begann im Oktober 2017 auf dem Imageboard 4chan. Eine geheimnisvolle Person postete unter dem Pseudonym „Q“ vermeintlich exklusive Informationen aus dem Umfeld des US-Präsidenten Donald Trump. Er führe einen Krieg gegen den tiefen Staat, also die Eliten in hohen Regierungsämtern und gesellschaftlichen Positionen. Eine satanistische Clique habe nicht nur einen Pädophilenring etabliert, sondern plane auch eine Art Diktatur. Die Bezeichnung „Q“ geht dabei auf die höchste Freigabestufe für geheime Informationen des US-Energieministeriums zurück, die der anonyme Urheber der Postings angeblich besitzt. 

Mittlerweile gewinnt „QAnon“ auch in Deutschland immer mehr Anhänger. Die sind davon überzeugt, nur Trump könne Deutschland seine Souveränität zurückgeben – durch einen neu aufgesetzten Friedensvertrag mit den USA. Wie groß die Anhängerschaft tatsächlich ist, bleibt unklar. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz kann auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT „das Personenpotential nicht quantifizieren, da auch Nichtextremisten die Theorie vertreten und Anhänger der Theorie keinen Bestrebungscharakter entwickeln“. Die Beteiligung der Bewegung an den Corona-Demonstrationen wirkt sich jedoch zwangsläufig auf die Querdenker aus, deren überparteilicher Anspruch, „das Schubladendenken Links-Mitte-Rechts zu ignorieren“, derzeit ohnehin massiv unter Druck steht. Verschiedenen Medien zufolge – von Spiegel-TV bis zur FAZ – habe sich die Bewegung aufgrund ihrer mangelnden Abgrenzung nach rechts diskreditiert. Michael Ballweg distanzierte sich in diesem Zusammenhang bereits von Nikolai Nerling, der als „Volkslehrer“ einen Youtube-Kanal betreibt und sich selbst als „rechtsradikal, von der Wurzel für das Gute“ bezeichnet. Auf den Corona-Demonstrationen tauchte Nerling kurzzeitig auf der Querdenken-Bühne  auf, in einer Rede sprach er später von „sechs Millionen Teilnehmern“ – eine Holocaust-Anspielung, die für Ballweg das Faß zum Überlaufen brachte.