© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Henker der Landwirtschaft“
Freihandel: Das EU-Mercosur-Abkommen könnte scheitern – zum Nachteil der deutschen Exportindustrie
Albrecht Rothacher

Voriges Jahr sorgten die „Fridays for Future“-Schulschwänzer für hektische Betriebsamkeit in der deutschen Politik. Selbst die CSU behauptete in ihrer panisch formulierten „Klimastrategie“ allen Ernstes: „Wir müssen entschieden handeln! Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um eine Chance im Kampf gegen den Klimawandel zu haben“, Deutschland müsse „beim Klimaschutz eine Vorbildfunktion einnehmen“, und Bayern solle zum „ersten klimaneutralen“ Bundesland werden.

Ein Jahr später ist die „Dekarbonisierung“ der Industrie, der „klimaneutrale Flugverkehr“ oder die „Stärkung des Radverkehrs“ Realität geworden – aber anders als von Greta, Luisa und Markus gedacht: Die Corona-Schutzmaßnahmen brachten einen globalen Wirtschaftseinbruch sowie eine Existenzkrise der Luftfahrt- und Touristikbranche. Und im Frühjahr und Sommer gab es für die Schüler nur Online-Unterricht.

„Ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert“

Weniger Aufmerksamkeit genießen heute wie damals die „systemrelevanten“ deutschen Landwirte – auch wenn sie im Herbst und Januar mit Tausenden Traktoren in Bayreuth, Berlin, Bonn, Freiburg, Hamburg, Hannover, Lüneburg, Magdeburg, Oldenburg oder Stuttgart protestiert haben: „Sie säen nicht und sie ernten nicht, aber sie wissen alles besser“, hieß es auf ihren Plakaten, die sie den Politikern entgegenhielten. Doch die Bauern-Initiative „Land schafft Verbindung“ richtet sich nicht nur gegen schärfere Düngemittel-, Umwelt- oder Tierschutzauflagen. Denn „ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert“, stand auch auf den Transparenten – was eine Anspielung auf die niedrigen Verkaufspreise, die EU-Agrarreform sowie das Mercosur-Abkommen ist. Das war auch vorige Woche bei den Bauernprotesten an der Mosel und am Deutschen Eck ein Stein des Anstoßes: Angela Merkel und ihre Ministerinnen Julia Klöckner und Svenja Schulze, Bauerverbandschef Joachim Rukwied sowie Kommissionchefin Ursula von der Leyen und ihr Vize Frans Timmermans seien „Henker der Landwirtschaft“, stand auf Plakaten anläßlich der EU-Agrarministerrunde in der Winzergemeinde Winningen.

Dabei hatte Landwirtschaftsministerin Klöckner diesen Handelsvertrag sogar offen in Frage gestellt. In Südamerika würden Regenwälder für Ackerland gerodet, so die CDU-Politikerin, zudem sei die stärkere regionale Versorgung eine Lehre aus der Corona-Krise. Auch ihre EU-Agrarministerkollegen seien „sehr skeptisch“ – was überrascht: Zwei Jahrzehnte hatte Brüssel im Auftrag der EU-Länder mit den vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay verhandelt. Mit ihren 270 Millionen Einwohnern und den 450 Millionen der EU würde die größte Freihandelszone der Welt entstehen.

Allein die deutsche Industrie würde nach Öffnung des abgeschotteten südamerikanischen Marktes etwa vier Milliarden Euro an Zöllen sparen, freute sich der Verband der Maschinen- und Anlagenbauer. Der Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen würde deutlich erleichtert. Im Gegenzug erlaubt die EU höhere Importkontingente bei Zucker, Rindfleisch, Geflügel oder Äthanol, denn die Lateinamerikaner sind nicht China: Sie sind nur in der Agrarproduktion und bei Rohstoffen wettbewerbsfähig. Verständlich, daß die Bauern gegen das EU-Mercosur-Abkommen Sturm laufen und sich den Interessen der Autoindustrie geopfert fühlen.

Und sie haben unerwartete Bundesgenossen: Attac, Greenpeace und die Großstadtpartei der Grünen, die ansonsten Massentierhaltung und Monokulturen anprangern und die Landwirte mit immer neuen Auflagen und Vorschriften drangsalieren wollen.

Für Katharina Dröge, Fraktionssprecherin für Wirtschaftspolitik, sind nicht einheimische Bauernhöfe, sondern die Landarbeiter am Río de la Plata und die angebliche Brandrodungspolitik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro Hauptablehnungsgründe. Da hilft wenig, daß das Abkommen Forderungen zum Klimaschutz, Arbeitnehmer- und Menschenrechten enthält, bei deren Verletzung der Vertrag jederzeit suspendiert werden kann.

Wirtschaftsverbände in Erklärungsnotstand

Das im Juli 2019 mit großem Tamtam unterschriebene Abkommen muß zur Ratifizierung von allen 27 nationalen Volksvertretungen und dem EU-Parlament gebilligt werden – ansonsten ist das Abkommen tot. Die Mercosur-Umsetzung war eines der Ziele der deutschen EU-Ratspräsidentschaft dieses Halbjahres, doch nun wackeln immer mehr: von Irland, über Frankreich und die Niederlande bis Österreich.

Auch Angela Merkel äußerte schon vor ihrem Treffen mit Greta Thunberg „erhebliche Zweifel“. In der Fraktionsklausur bekannte sich die Kanzlerin dann zwar zu „Geist und Intention“ des Abkommens, aber bis Frühjahr 2021 müsse nachverhandelt werden – um ein „sanktionsbewehrtes Nachhaltigkeitskapitel“ zu ergänzen, wie die Grünen formulieren würden?

Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) widerspricht nicht – obwohl von den Exporten direkt oder indirekt über die Hälfte der deutschen Industriearbeitsplätze abhängen. Auch die Wirtschaftsverbände sind in Erklärungsnotstand. Haben sie sich nicht selbst opportunistisch grün angestrichen und ihren Mitgliedsfirmen Nachhaltigkeitsziele aller Art und die Klimapanik oktroyiert? Jetzt soll es angesichts der Corona-Krise wieder um die Rückbesinnung auf den Erhalt altmodischer Industriearbeitsplätze, ein neues Wachstum und die Erschließung neuer Märkte gehen. Das verlangt einigen Erklärungsaufwand, zu dem die wenigsten noch in der Lage erscheinen.

Ist das Mercosur-Abkommen noch zu retten? Protokoll-Erklärungen der Vertragspartner zu den links-grün-schwarzen Einwänden könnten manche Kritiker noch beschwichtigen. Doch ist schwer einsichtig, warum sich die südamerikanischen Partnerländer an das weltbeglückende Gängelband binden sollten. Ein Menetekel ist der im August wegen läßlicher Corona-Sünden erzwungene Rücktritt von Handelskommissar Phil Hogan, eines der wenigen politischen Schwergewichte der schlingernden EU-Kommission von Ursula von der Leyen. Ohne den wirtschaftsliberalen Iren dürfte die Vertragsrettung schwieriger werden.

Nach dem Scheitern der Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO versucht die EU, mit bilateralen Abkommen, mehr Freihandel durchzusetzen. Mit Südkorea, Singapur, Japan und Vietnam lief alles rund. Dann schossen sich die Globalisierungsgegner auf das Ceta-Abkommen mit dem 38 Millionen Einwohner zählenden Kanada ein – nur 14 EU-Länder und Großbritannien haben bislang zugestimmt. Das TTIP-Abkommen mit den USA verhindert Donald Trump, der US-Präsident setzt lieber auf „Deals“ per Faustrecht. Wenn das EU-Mercosur-Abkommen scheitert, dürfte das vor allem China und Südkorea freuen, die seit 2018 mit den Südamerikanern verhandeln – und das ganz ohne grüne Brille.

EU-Mercosur trade agreement: ec.europa.eu