© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Für Mobilität und Migration
Ein Klassiker frisch aus der bundesdeutschen Retorte: Anmerkungen zur Ausgabe der „Sämtlichen Schriften“ Alexander von Humboldts
Wolfgang Müller

Kurz vor Alexander von Humboldts 250. Geburtstag am 14. September 2019 fand in der Berliner Staatsbibliothek eine Buchpräsentation statt. Stattliche sieben Bände versammelten die einst über Hunderte von Zeitschriften und Zeitungen verstreuten, zumeist kurzen Beiträge, mit denen der kommunikative Universalgelehrte den Fortschritt der Wissenschaften in der Geologie, Geographie, Kartographie, Statistik, Vulkanologie, Botanik, Zoologie, Meteorologie, Hydrologie, Kosmologie und Astronomie – um nur wichtigste Disziplinen zu nennen – vorantrieb.

Zu den publizistischen „Sämtlichen Schriften“ dieser „Berner Ausgabe“, von denen weit über die Hälfte im hier wiederabgedruckten Texte im französischen Original erschienen sind, gesellen sich ein Band mit Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und sogar Polnischen, ein Band mit einer vorzüglichen wissenschaftshistorischen „Durchquerung“ des enzyklopädisch üppigen Materials, ohne die kein Leser auskommt, der nicht Fachmann ist etwa für die Geschichte der Geographie oder Kartographie des 19. Jahrhunderts, sowie endlich der Schlußband „Werkzeuge“ mit der 300seitigen Bibliographie der Publikationen Humboldts, den Glossaren, dem chronologischen und alphabetischen Gesamtinhaltsverzeichnis. Alles in allem 7.000 Seiten von und über Humboldt, knapp ein halber Regalmeter, der sich wahrlich nicht als Reise- oder Gute-Nacht-Lektüre eignet.

Was aber soll das? Ist das mehr als ein größenwahnsinnig wirkender Rekordversuch, um die, hart bedrängt von Gender-Vodoo, um Forschungsförderung buhlende Leistungsfähigkeit der Editionswissenschaft an einem letztlich untauglichen, weil hoffnungslos antiquierten Objekt zu erproben? Einer der Herausgeber, der Berner Komparatist Oliver Lubrich, erklärte es dem staunenden Publikum praktischerweise mittels einer Selbstrezension in der Neuen Zürcher Zeitung (Ausgabe vom 15. September 2019). Wenn seine von ihm und dem Literaturwissenschaftler Thomas Nehrlich herausgegebene monumentale Ausgabe heute wichtige, aber vergessene Teile des Werks wieder zugänglich mache, dann werde damit das Fundament für „ein neues Humboldt-Bild“ gegossen. Nach rund siebzig Humboldt-Biographien könne auf dieser Basis jetzt sein Leben ganz neu erzählt werden.

Die Merkel-Regierung, selbstredend keineswegs uneigennützig, ist dafür schon in Vorleistung getreten und hat erheblich investiert: fast 700 Millionen Euro in das größte Kulturprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik, das nach den Brüdern Wilhelm und Alexander benannte, im Dezember dieses Jahres nach dreimaliger Verschiebung zur Teileröffnung anstehende Humboldt-Forum in Berlin-Mitte. Ferner zwölf Millionen Euro in den Erwerb von Alexanders Reisetagebüchern aus Familienbesitz, dazu Riesensummen für das – vermutlich nur mittelfristig – auf 2030 terminierte Langzeitunternehmen  der weiteren Nachlaß-Erschließung.

Alexander von Humboldt, der zum halben Franzosen stilisierte Weltweise mit hugenottischem „Migrationshintergrund“, nicht sein allzu „preußisch“ gebliebener Bruder Wilhelm, der spätestens im Zuge des Bologna-Prozesses ausrangierte Bildungsreformer, ist, wie der heftig mit dieser Wahl sympathisierende Lubrich frohlockt, auserkoren zum „kosmopolitischen Repräsentanten“ der bunten, multikulturellen Republik. Humboldt sei der lange ersehnte „gute Deutsche“, der „antirassistische“ Forschungsreisende, der den Kolonialismus kritisiert, die Sklaverei verurteilt, sich für die Emanzipation der Juden einsetzt, der „Linksintellektuelle und écrivain engagé“, der zeitlebens die Ideale der Französischen Revolution hochhält, der Regenpfeifer der Globalisierung, der global denkende Transatlantiker und weltoffene Europäer, der „internationaliste [!] Publizist seiner Zeit“, die Idealbesetzung als Leitfigur „softer“ Berliner Außen- und Außenkulturpolitik.

Mit dieser delirierenden Offenheitslitanei nicht genug: „Humboldt steht für alles, was heute von Rechtspopulisten bekämpft wird: für eine empirische Wissenschaft im postfaktischen Zeitalter, für internationale Zusammenarbeit in Zeiten neuer Nationalismen, für eine Offenheit gegenüber fremden Kulturen“ und – dies heute das ultimative Trumpfass – „für Mobilität und Migration, für die Rechte der Minderheiten und für den Schutz der Natur“. Kurz: Hätte Humboldt nicht gelebt, die Protagonisten deutscher Selbstabschaffung hätten sich keinen besseren Schutzheiligen backen können.

Gleich der erste Text der Ausgabe, ein im Januar 1789 in einer Berliner Zeitschrift in französischer Sprache anonym publizierter Aufsatz des 19jährigen über einen javanischen Giftbaum, scheint das von Lubrich versprochene, vom offiziösen Gesinnungskitsch bundesdeutscher Lebenslügen triefende „neue Humboldt-Bild“ zu legitimieren. Eingekleidet in eine botanische Studie habe der junge Autor ein Thema der Naturforschung mit politischer Bedeutung aufgeladen. Da Humboldt schildere, daß der Saft des Baumes von den Javanern als Pfeilgift gegen die niederländischen Okkupanten eingesetzt worden sei und Priester den Indigenen vorgaukelten, Gott bestrafe mit dem Giftbaum ihre Sünden, habe er selbst in guter aufklärerischer Manier Giftpfeile gegen den Kolonialismus und den Klerus abgeschossen.

Womit Lubrich die Miszelle jedoch gehörig überinterpretiert, vulgo verfälscht. Denn erstens ist nicht ersichtlich, ob wirklich Humboldt Naturwissenschaft und Kulturkritik verkoppelt. Nicht er beschreibt nämlich den Giftbaum, sondern, was Lubrich verschweigt, der schwedische Mediziner, Naturforscher und Linné-Schüler Carl Peter von Thunberg (1743–1828), der in den 1770ern die Pflanzenwelt Südafrikas, Javas und Japans erkundete. Humboldt referiert lediglich in Form einer Rezension dessen 1788 in Uppsala veröffentlichte Studie über den Arbor Toxicaria Macassariensis. Es geht daraus nicht einmal hervor, wie Lubrich unter Verweis auf den atheistischen Erz-aufklärer Voltaire suggeriert, daß, – wie Humboldt akkurat wiedergibt – Thunberg mit „Priestern“ nicht christliche Missionare in Niederländisch-Indien meinte, sondern deren dort das infame Geschäft des Volksbetrugs virtuoser beherrschende islamische Konkurrenz, „les Prêtres Mahométans“.

Wer nach diesem vermeintlich furiosen Auftakt nun in den folgenden 95 Texten des ersten, die Frühschriften von 1789 bis 1799 vereinenden Bandes, nach wenigstens ansatzweise ähnlich politisch traktierbaren Aussagen sucht, dürfte bitter enttäuscht werden. Die finden sich weder in der Besprechung einer Abhandlung über die weiland innovative Technik einer „Spin-Zwirn-Haspel-Kratz und Krempel-Maschine zu hundert und mehrern Faden“ noch in den im Selbstversuch verifizierten physiologischen Annahmen, noch in der Mitteilung über die Erfindung des ehrgeizigen Oberberg-rats, mit einer „einfachen Vorrichtung, durch welche Menschen stundenlang in irresprirablen Gasarten, ohne Nachtheil der Gesundheit, und mit brennenden Lichtern“ sich unter Tage bewegen können. 

So geht es in den folgenden Bänden fort, die in erster Linie dem überschaubaren Zirkel der Historiker der Naturwissenschaften ein mit Leckerbissen gespicktes Büffet offerieren. Es lockt mit der vielfach verwerteten berühmten Episode „Jagd und Kampf der electrischen Aale mit Pferden“ (1807), mit dem „Einfluß des Nordlichts auf die Magnetnadel“ (1808), den Notizen über den „Grund-Reichthum von Mexiko in Vergleichung mit seinen metallischen Producten“ (1811) oder den Betrachtungen „Ueber den Einfluß der Abweichung der Sonne auf den Anfang der Aequatorial-Regen“ (1818).

Auf brisant Politisches, freilich den ahistorischen Klitterungen von Lubrich und der Corona jüngerer Biographen wie Ottmar Ette, Andrea Wulf und Rüdiger Schaper geradezu ins Gesicht schlagende Einlassungen trifft der geduldige Leser erst wieder im vierten Band, der Humboldts Rede zur Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte am 18. September 1828 in Berlin enthält. Der Kosmopolit offenbart sich darin als in der Wolle gefärbter preußisch-deutscher Patriot: „Überall, wo die deutsche Sprache ertönt, und ihr sinniger Bau auf den Geist und das Gemüth der Völker einwirkt; von dem hohen Alpengebirge Europas, bis jenseits der Weichsel, wo, im Lande des Copernicus, die Sternkunde sich wieder zu neuem Glanz erhoben sieht [durch den Königsberger Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel], überall in dem weiten Gebiete Deutscher Nation“ würde diese dicht vernetzte Gelehrtenrepublik bereits die wünschenswerte politische Einheit des „gemeinsamen Vaterlandes“ repräsentieren.

Von materieller Not getrieben, war Humboldt daher 1827, nach zwanzig Jahren in der „Stadt des Lichts“ an der Seine, nicht in die „kulturelle Wüste“ und semiabsolutistische Stickluft der „ungeliebten preußischen Heimat“ (Schaper) zurückgekehrt, sondern in den „Kulturstaat Preußen“, der gerade Anlauf nahm, um Frankreich auch aus seiner Spitzenstellung in den Naturwissenschaften zu verdrängen. 

Übrigens wechselte er, wie der frankophile neudeutsche Westwanderer gern unterstellt, bei diesem Umzug von Paris nach Berlin nicht vom demokratischen in den autokratischen Sektor Europas. Frankreich war seit der Kaiserkrönung Napoleons I. eine Monarchie und blieb dies bis 1870, als Napoleons III. zweites Kaiserreich im Deutsch-Französischen Krieg zerschellte. Humboldt erwärmte sich nie für die radikaldemokratisch-terroristische, sondern mit aller elitären Reserve nur für die großbürgerlich-liberale Umsetzung der Ideen von 1789. Die Variante, die er während seiner Pariser Zeit seit 1815 erlebte, war das restaurierte, ultraroyalistisch verschärfte, von Finanzaristokratie und Großgrundbesitz „bourgeoisrepublikanisch“ (Karl Marx) gestützte Bourbonen-Regime, das in gewohnter gallischer Übung, eskalierende Klassengegensätze durch Angriffskriege zu neutralisieren, damit begann, sich ein Kolonialimperium in Afrika und Indochina zusammenzurauben. Der hingegen im effizienten preußischen Rechts- und Verwaltungsstaat, dem fortschrittlichsten Europas, beheimatete Humboldt sah 1830 voller Verachtung auf das notorisch instabile und korrupte politische System des Nachbarlandes, wo ständig die regierenden durch „noch größere Schufte“ ausgetauscht würden, die allesamt das Gemeinwohl ihrer Selbstsucht unterordneten.

Oliver Lubrich hofft, Humboldt werde dank dieser Edition fortan weniger gefeiert und mehr gelesen. Daß sich diese Hoffnung erfüllt, ist angesichts des schieren Umfangs und der spröde-hermetischen Spezialthematiken unwahrscheinlich. Wer sich trotzdem einliest, findet jedoch Anhaltspunkte für den Verdacht, daß das „neue Humboldt-Bild“ nur jenseits bundesrepublikanischer Projektionen zu entdecken ist.

Oliver Lubrich/Thomas Nehrlich (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Sämtliche Schriften. Berner Ausgabe, dtv, München 2019, 10 Bände, gebunden 7.000 Seiten, Abbildungen, 250 Euro