© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Auch im Westen soll amputiert werden
Während der Londoner Außenministerkonferenz 1945 formulierte Charles de Gaulle seine Annexionspläne gegen Deutschland
Hans-Jürgen Wünschel

Der ehemalige französische Staatspräsident François Mitterrand hat im Mai 1995 anläßlich der Erinnerung an das Kriegsende fünfzig Jahre zuvor gemahnt, im Bewußtsein zu halten, was in der Vergangenheit einmal geschehen ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und die Sowjetunion entwickelten während des Zweiten Weltkrieges Pläne, die zum Ziel hatten, nach Abschluß der Kämpfe das Deutsche Reich in eine Vielzahl von selbständigen Staaten aufzugliedern. Ein in mehrere souveräne Staaten geteiltes Deutschland wäre schwach und ein für allemal als europäische Großmacht ausgeschaltet gewesen. 

Auf der letzten Kriegskonferenz von Jalta wurde jedoch kein konkreter Beschluß über die Zerstückelung gefaßt. Mit dem Ende der Kampfhandlungen gaben die Alliierten diese Pläne auf. Anders verhielt sich Frankreich, das nicht zu den „Großen Drei“ gehörte, aber dies schon während des Krieges mit seinen territorialen Forderungen gegenüber Deutschland in Kenntnis setzte. Danach sollten die Landschaften am Bodensee, Baden, Hessen-Darmstadt, Hessen-Nassau, die Pfalz, das Saargebiet und das Gebiet südlich von Köln von französischen Truppen besetzt werden und vom einen Ende des Rheins bis zum anderen das linke Rheinufer vom deutschen Staat oder den deutschen Staaten abgetrennt werden. 

Charles de Gaulle hatte im Dezember 1944 bei seinem Besuch in Moskau die Zustimmung Frankreichs zur Verlegung Polens an die Oder-Neiße-Grenze angeboten, wenn die Sowjetunion sich für die Verlegung der französischen Ostgrenze an den Rhein ausspräche, was Stalin unbeantwortet ließ. In seinen Memoiren führt de Gaulle aus, daß die Besetzung deutschen Gebietes durch französische Truppen bewirken sollte, keine Diskussion über die Zukunft Deutschlands ohne die Mitwirkung Frankreichs beginnen zu lassen.

Teilweise unterstützt wurde de Gaulle von Vertretern der verschiedenen politischen Richtungen. Entschiedene Befürworter der de Gaulleschen Politik waren die französischen Kommunisten. Christliche und konservative Politiker entwickelten Pläne, die vorsahen, daß Frankreichs Sicherheit am besten im Rahmen eines föderativ aufgebauten Europa zu gewährleisten sei. Nach langen Verhandlungen kamen die Siegermächte überein, daß die französische Besatzungszone aus dem Saargebiet, der Pfalz, dem südlichen Teil der Rheinprovinz, Hessen-Nassau, Südbaden und Südwürttemberg bestehen sollte. Am 10. Juli 1945 marschierte die französische Armee in das bisher von US-amerikanischen Truppen besetzte und verwaltete linke Rheinufer ein. 

Frankreich erhob Bedenken gegen die in Potsdam vorgesehene Errichtung von deutschen Zentralinstanzen. Sein Einspruch war von der Furcht geleitet, mit der Errichtung deutscher Zentralinstanzen auch wieder eine einheitliche deutsche Wirtschaft und damit die Voraussetzung für ein Erstarken deutscher militärischer Macht zu schaffen. Auch wollte es nichts anerkennen, was die Sowjetunion sich an deutschem Gebiet durch das Potsdamer Protokoll besiegeln ließ, ohne auch an der Westgrenze zu einer für Frankreich vorteilhaften Regelung gekommen zu sein.  

Am Vorabend der ersten Außenministerkonferenz nach dem Kriege, im September 1945, entwickelte de Gaulle in einem Interview mit der Londoner Times noch einmal seine Ideen einer künftigen französischen Deutschlandpolitik, die er bereits im Jahr 1934 in seiner Denkschrift über den Aufbau einer französischen Panzerarmee formuliert hatte. Durch die Entscheidung von Potsdam, meinte der General, sei Deutschland zwar im Osten, aber nicht im Westen „amputiert“ worden. Dieser Verlagerung der deutschen Interessen vom Osten nach dem Westen mit all ihrer damit von Frankreich befürchteten deutschen Aggressivität könne man begegnen, wenn man Deutschland auch im Westen „amputiere“. 

Im Frühjahr 1946 wurden von französischer Seite auch Pläne entwickelt,  ihre Politik den in der Atlantik-Charta formulierten Ideen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker anzupassen.  Frankreich unterstützte autonomistische und separatistische Umtriebe in seiner Besatzungszone, mit deren Hilfe es hoffte – wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – die Bevölkerung entscheiden zu lassen, zu welchem Staat sie gehören wolle. In der Pfalz, im Rheinland und in Südbaden entstanden separatistische, allerdings bedeutungslose  Organisationen. 

Einfluß der USA beendete alle französischen Pläne

Unter dem Einfluß der aggressiven imperialistischen Politik der UdSSR verkündete im September 1946 der amerikanische Außenministers James F. Byrnes in Stuttgart die endgültige Entscheidung der USA, die französischen Pläne abzulehnen und ein freies, demokratisches Deutschland aufzubauen. Ausgehend von der Überzeugung, daß eine Demokratie in Hunger und Elend keinen günstigen Nährboden habe, verkündete er den Wunsch seiner Regierung, dem deutschen Volk wirtschaftlich zu helfen, damit es seinen Weg zurückfinden könne zu einem Platz unter den freien Nationen der Welt. Wollte Frankreich wirtschaftlich und damit auch politisch erstarken, war es auf auswärtige Hilfe angewiesen. 

Tatkräftige Unterstützung konnte es aber nur von den Vereinigten Staaten von Amerika erwarten. Um einer künftigen außenpolitischen Isolierung zu entgehen, mußte Frankreich, auf wesentliche amerikanische Wirtschaftshilfe hoffend, der Deutschlandpolitik der USA zustimmen. Frankreich bietet in den Nachkriegsjahren ein gutes Beispiel für das Reagieren nationaler Politik auf weltpolitische Machtverschiebungen.