© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Ganz zufällig erschossen
Schweden: Nicht Corona, sondern eine brutale Bandenkriminalität erschüttert das Land
Christoph Arndt

Während das Coronavirus fast überall die spätsommerlichen Schlagzeilen in Europa prägte, wurde die mediale und politische Debatte in Schweden zunehmend vom Thema Gewalt- und Bandenkriminalität bestimmt. 

Trauriger Höhepunkt war die Tötung eines 12jährigen Mädchens am Morgen des 2. August im Stockholmer Vorort Norsborg, das seinen Hund spazieren führte. Das Mädchen wurde durch einen Schuß getötet, war aber laut dem schwedischen Sender SVT ein Zufallsopfer in einem Bandenkonflikt.

Das eigentliche Ziel der bislang unbekannten Täter war eine Personengruppe, die sich auf einem nahe gelegenen Parkplatz befand und nach Zeugenaussagen schußsichere Westen trug. Das Mädchen war nach Angaben des Kriminologen Ardavan Khoshnood eines von 15 Zufalls-opfern bei Schießereien in Bandenkonflikten in den vergangenen zehn Jahren.

Es ist auch nur eines von vielen Opfern im Jahre 2020. So gab es in den ersten sieben Monaten des Jahres bereits 195 Schießereien in der Öffentlichkeit, dabei mußten Svenska Dagbladet zufolge 22 Tote beklagt werden. Letztlich könnten die Zahlen des bisherigen Schreckensjahres 2018 noch übertroffen werden, in dem 45 Menschen bei mehr als 300 Schießereien getötet wurden.

Es gibt mindestens 40 clanbasierte Banden

Eine weitere Horrortat erschütterte das Land in der Nacht zum 23. August. Hier wurden zwei Jugendliche nach einem gescheiterten Drogengeschäft in Solna, ebenfalls ein Vorort Stockholms, zunächst ausgeraubt, zusammengeschlagen und vergewaltigt, danach sollten sie lebendig begraben werden. Ein Spaziergänger konnte dies am Sonntag morgen verhindern. Verhaftet wurden zwei andere Jugendliche (18 und 21 Jahre), die laut Aftonbladet schon mehrere Drogen-, Eigentums- und Gewaltdelikte begangen haben.

Bei Gewalttaten dieser Dimension sind fast ausschließlich Mitglieder von Gangs involviert. Mats Löfving, stellvertretender Chef der schwedischen Reichspolizei, konstatierte im Radioprogramm Ekot, daß es mindestens 40 clanbasierte kriminelle Netzwerke in Schweden gibt, die für die Gewalteskalation in den Vororten der Großstädte hauptverantwortlich sind. Die Clans seien laut Löfving vorrangig mit dem Ziel nach Schweden gekommen, die Kriminalität zu organisieren und zu systematisieren.

In dieser Hinsicht äußerte sich Löfvings Kollege, Stefan Hector, amtierender Chef der NOA, einer Polizeiabteilung für landesweite Koordination von Einsätzen in der Reichspolizei, noch skeptischer. Der Zuwachs in den entsprechenden Milieus sei laut Hector so groß, daß die Polizei allein das Problem nicht lösen könne, um die Anzahl der Schußwechsel in der Öffentlichkeit wieder zu reduzieren.

Politiker fordern härtere Strafen für Minderjährige

Mit der steigenden medialen Aufmerksamkeit nahm auch die politische Debatte über die organisierte Banden- und Gewaltkriminalität wieder an Fahrt auf, welche bereits vor dem Ausbruch des Coronavirus die politische Tagesordnung bestimmte. So beklagte der Vorsitzende der konservativen Moderaterna (M), Ulf Kristersson, daß es in gewissen Vororten mittlerweile kriegs-ähnliche Zustände gebe und bezeichnete die Kriminellen als einheimische Terroristen. Die Schwedendemokraten (SD) hatten zuvor bereits gefordert, daß bandenbezogene Kriminalität wie eine terroristische Vereinigung behandelt werden müßte.

Kurz nach der Tötung des 12jährigen Mädchens hatte die rot-grüne Regierung ein 34-Punkte-Programm mit Vorschlägen zur Eindämmung der Gangkriminalität vorgestellt. Dieses Programm wurde schon 2019 ausgearbeitet, ist aber von der Mehrheit im Reichstag als unzureichend abgelehnt worden. Die Oppositionsparteien aus dem konservativen Lager (Christdemokraten, Moderate und Schwedendemokraten) warfen Innenminister Mikael Damberg (Sozialdemokraten) Handlungsschwäche vor und forderten eine härtere Abschiebepolitik und weitergehende Befugnisse für die Reichspolizei, wie etwa erleichterte Abhörmaßnahmen in kriminellen Milieus sowie härtere Strafen für minderjährige Kriminelle.