© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Das Wachstum endet, und das Altern beginnt
Weltbevölkerung: Einer Studie zufolge soll die Anzahl der Menschen auf unserem Globus im 21. Jahrhundert erst stagnieren und dann fallen
Phlipp Meyer

New York im Jahr 2022: In den engen Häuserschluchten der Megametropole fristet eine verwahrloste Unterschicht ihr trauriges Dasein. Wohnungen, sauberes Trinkwasser und natürliche Lebensmittel sind Mangelware und nur noch für die oberen Zehntausend erschwinglich. Die verarmte Restbevölkerung ernährt sich von einem synthetischen Nährstoff aus Plankton, der von einem monopolistischen Nahrungsmittelkonzern hergestellt wird. Aufgrund seiner Form in grünen quadratischen Täfelchen nennt man ihn „Soylent Green“. 

So jedenfalls skizzierte Richard Fleischer 1973 in dem gleichnamigen Science-fiction-Film die Zukunft einer überbevölkerten Erde. Seine Ökodystopie war stark geprägt von dem ein Jahr zuvor erschienenen Club-of-Rome-Bericht, der erstmals einen Zusammenhang zwischen explodierender Weltbevölkerung, Ressourcenverknappung und Umweltverschmutzung modellierte. 

Seit Jahrzehnten hält sich hartnäckig die Überzeugung, daß das Wachstum der Weltbevölkerung nur eine monoton steigende Exponentialfunktion sein kann. Mehr Menschen gebären mehr Menschen, was nur zu noch mehr Menschen führen kann. Eine Annahme, die auch durch die offiziellen Prognosemodelle der Vereinten Nationen gestützt wird. Diese vermuten einen Anstieg der Weltbevölkerung auf über 10,9 Milliarden Individuen im Jahr 2100.

Zweifel an der Gewißheit der steigenden Bevölkerung

In der Tat ist das bisherige Wachstum der menschlichen Population schwindelerregend. Als im Jahr 1804 noch eine Milliarde Menschen auf der Erde lebte, benötigte es 123 Jahre, bis sich deren Anzahl verdoppelte. Nur weitere 47 Jahre später, im Jahr 1974, vollzog sich schon wieder eine Verdopplung auf vier Milliarden. Derzeit erblicken jährlich rund 80 Millionen Erdenbürger das Licht, das macht 220.000 pro Tag oder 150 in jeder Minute. Im Jahr 2023 soll dann die Marke der acht Milliarden geknackt werden.

Demographie gilt als sehr prognosesichere Wissenschaft, deren Faktoren wie Fertilitäts- und Sterberaten nur langfristigen Schwankungen unterliegen und daher über Jahrzehnte genau modelliert werden können. 

Insofern waren die Debatten der vergangenen Jahre geprägt von dem richtigen Umgang mit dieser als nahezu sicher geltenden Wachstumskurve. Klonfleisch, Genmais und Meerwasser-entsalzungsanlagen sollten Hunger und Durst einer immer größer werdenden Menschenpopulation stillen. Um so stärker ist das Aufsehen, das eine in der  britischen Medizinfachzeitschrift The Lancet erschienene Studie des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) erregt. Denn das in Seattle ansässige Institut bricht mit der Gewißheit der konstant steigenden Erdbevölkerung. Die Forscher um IHME-Direktor Christopher Murray stellen eine Gegenthese auf, die besagt, daß die Erdpopulation mit 9,6 Milliarden Menschen im Jahr 2064 ihren Höhepunkt erreicht, der dann auf 8,8 Milliarden zum Ende des Jahrhunderts sinken soll. 

Die Studie des IHME greift dabei demographische Entwicklungen auf, die im Katastrophenszenario der unkontrollierten Bevölkerungsexplosion gern übersehen werden: Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung sinkt schon seit Jahrzehnten konstant. 

Bis ins Jahr 2100 sollen die Fruchtbarkeitsraten fallen

Lag diese noch bei 1,8 Prozent im Jahr 1950, hat sie sich mittlerweile auf 0,9 Prozent halbiert. Bis ins Jahr 2100 sollen die Fruchtbarkeitsraten in über 183 Ländern unter die magische Zahl von 2,1 Geburten pro Frau fallen, die unter modernen Bedingungen zur Stabilisierung einer Population dient. 

Als ursächlich für dieses Absinken gelten die höhere Bildung und Berufstätigkeit von Frauen, wachsender Wohlstand und Urbanisierung in Schwellenländern sowie verbesserte sexuelle Aufklärung. 

Den Kern der Studie bildet die optimistische Annahme, daß die Weltwirtschaft weiterhin prosperieren wird und daher durch Akademisierung und Wohlstandsmehrung die Lebensverhältnisse global immer mehr denen der führenden Industrienationen gleichen werden. Plausibilität erfährt die Studie jedoch auch durch die Korrekturen der UN-Prognosen. 1975 ging man dort noch von einer Weltbevölkerung von 12,3 Milliarden Menschen im Jahr 2100 aus. Ein Wert, der die späteren Vorhersagen deutlich übersteigt. Denn das Erdbevölkerungswachstum sank schneller als erwartet.

Wird sich die Erdbevölkerung im 21. Jahrhundert so entwickeln, wie an der Universität von Seattle angenommen, können bald viele demographische Probleme, die von Ländern wie Japan und Deutschland bekannt sind, auf große Teile des Planeten übertragen werden. Rund 2,4 Milliarden Menschen wären im Jahr 2100 über 65 Jahre alt, aber nur 1,7 Milliarden unter 20 Jahren. Die Folge wäre also ein Kampf um junge Arbeitskräfte und enorme Kosten für die Versorgung der pflegebedürftigen Alten. Rentenlücken und Innovationsrückgang wären die Folge. Der globale Bieterkampf um Fachkräfte würde noch mehr an Schärfe gewinnen und für anhaltende Migrationsbewegungen sorgen.  

Auch geopolitisch könnte dies zu einer neuen Weltordnung führen. Etwa um das Jahr 2035 wird vermutet, daß China die USA als größte Wirtschaftsmacht (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) überholt. Doch durch die Folgen der repressiven Ein-Kind-Politik und mehr berufstätige Frauen soll die chinesische Bevölkerung bis zur Jahrhundertwende von derzeit 1,4 Milliarden auf nur noch 732 Millionen Bürger implodieren. 

Dies könnte den USA, die als eine der ganz wenigen Industrienationen ein kleines Bevölkerungswachstum über die Jahrzehnte erzielen sollen, wieder eine Rückkehr an die Spitze ermöglichen. Zum bevölkerungsreichsten Land der Erde würde Indien aufsteigen – jedoch nur, weil sich dessen Einwohnerzahl weniger stark von derzeit 1,38 Milliarden auf 1,1 Milliarden verringern würde. Eine wahre Bevölkerungsexplosion soll hingegen Nigeria (Anstieg von 206 auf 791 Millionen) erfahren. Das Land steht stellvertretend für den immer noch starken Bevölkerungsanstieg in Afrika und Vorderasien. 

Auch wenn die dortigen Fertilitätsraten von derzeit über fünf Kindern pro Frau auf ebenfalls unter zwei sinken werden, wird dies nichts daran ändern, daß diese Regionen um 2100 die mit Abstand bevölkerungsreichsten der Erden sein werden. Die Forscher gehen von einer Verdreifachung in Afrika südlich der Sahara aus. 

Spanien und Italien werden ihre Einwohnerzahlen hingegen halbieren und ihren Status als führende Industrienationen nur schwerlich halten können. Für Deutschland prognostiziert das IHME einen Höhepunkt mit 85 Millionen Menschen im Jahr 2035 und danach ein stetes Absinken der Bevölkerung auf 66,4 Millionen. Zusammen mit Großbritannien und Frankreich soll es jedoch den Demographieforschern zufolge seinen Platz unter den ökonomischen Spitzennationen behaupten können. Es bleibt daher anzunehmen, daß diese Länder weiterhin Wirtschaftsmigranten aus Afrika und dem arabischen Raum magisch anziehen werden. 

Die Demographie wird nicht alleine über das Schicksal der Nationen bestimmen. Sie könnte jedoch für deutlich mehr Länder zur Herausforderung werden als bisher vermutet. Von entscheidender Bedeutung ist, wie auf den Bevölkerungsrückgang reagiert werden wird. 

So ist China längst von seiner Ein-Kind- zur Zwei-Kind-Politik gewechselt und sieht vor, künftig auch für noch größere Familien keine Bußgelder (derzeit noch über 8.000 Euro pro überzähligem Kind) mehr zu verhängen. Aber die bloße Abkehr von Repression bringt noch keinen Nachwuchs. Da in dem Land die Lebenshaltungskosten ebenfalls steigen, bedarf es zusätzlicher Familienförderung, für die es jedoch noch keine wirksame Strategie gibt.

Afrika und Vorderasien bilden die Ausnahme

Tragfähige Konzepte benötigt es ebenso für eine immer älter werdende Weltbevölkerung. Kybernetik, Robotik und künstliche Intelligenzforschung – alles, was menschliche Arbeitskraft an Maschinen auslagern kann – stellen Forschungsbereiche dar, die künftig von elementarer Bedeutung sein werden. Rentensysteme und Gesundheitswesen müssen für die kommenden Streßtests abgesichert und die Versorgung älterer Mitbürger gewährleistet werden. 

Für die natürlichen Ressourcen des Planeten stellt die Aussicht auf eine schrumpfende Erdbevölkerung hingegen eine gute Nachricht dar. Doch gerade in Afrika und Vorderasien wird der Bevölkerungsanstieg weiterhin für eine angespannte Situation in den nächsten Jahrzehnten sorgen. Desertifikation, Trinkwasserverknappung, Landflucht und bewaffnete Konflikte werden die Folge sein. Eine weitere Destabilisierung der Region wird auch Auswirkungen auf ein überaltertes Europa haben. Ein nicht endender Migrationsdruck könnte weitere militärische Stabilisierungsmissionen notwendig machen.

Die Bevölkerungsexplosion in New York City scheint also nicht nur für das Jahr 2022, sondern auch für 2100 abgesagt. Das eigentliche Grauen in „Soylent Green“ taucht hingegen zum Ende des Filmes auf, wenn der Zuschauer erfährt, daß die Grundlage des schmackhaften Nährstoffs nicht Plankton, sondern Menschenfleisch ist. Ein Blick auf die IHME-Prognose eignet sich indes nicht als Basis für Science-fiction-Filmen.