© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Ein Philosoph auf Sonderwegen
Grenzgänger rechten Denkens, Teil 3: Helmuth Plessner und seine Analysen der „verspäteten Nation“
Wolfram Ender

Der Philosoph Helmuth Pless-ner ist auch einer breiteren Allgemeinheit wegen seines zum Schlagwort gewordenen Buchtitels „Die verspätete Nation“ von 1959 bekannt geworden. Weniger bekannt ist, daß Pless-ners Werk eine Erstausgabe von 1935 mit anderem Titel vorausging, welche das „Schicksal des deutschen Geistes“ etwas anders interpretierte als die Nachkriegsausgabe. 

Plessner, 1892 in Wiesbaden geboren, war nach dem Studium an verschiedenen deutschen Universitäten von 1920 bis zu seiner Entlassung wegen jüdischer Herkunft durch die Nationalsozialisten 1933 Privatdozent und Professor der Philosophie in Köln. Von 1934 bis 1951, unterbrochen 1943 bis 1945 durch die deutsche Besatzungsmacht, lehrte er Philosophie und Soziologie an der Universität Groningen/Niederlande. Danach war er bis 1963 Professor an der Universität Göttingen, wo er 1985 verstarb. 

Plessner gilt neben Max Scheler als Mitbegründer der modernen philosophischen Anthropologie, die sich zum Ziel gesetzt hat, in Verbindung philosophischer mit natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Methoden und über alle fachliche Spezialisierung hinaus eine Gesamtwesensschau des Menschen im Rahmen der Ordnung aller Lebewesen zu erarbeiten. Der zweite Schwerpunkt von Plessners Schaffen liegt in philosophisch begriffener Soziologie, also im Grenzbereich „zwischen Philosophie und Gesellschaft“. Noch vor seinem großen Exilwerk von 1935 setzt sich Plessner 1934 kritisch mit Eric Voegelins Hoffnung auf eine Versöhnung von NS-Rassenidee und wissenschaftlicher Rassentheorie auseinander, indem er Voegelin mangelnde Distanz zum Nationalsozialismus bescheinigte, der das Geistige wie der Marxismus ja auch nur als Überbau betrachte.

Versailles habe Humanismus westlicher Prägung entwertet

Mit seinem 1935 erschienenen epochemachenden Werk „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“, das einzige mit im eigentlichen Sinn politisch-historischem Inhalt, dessen für die Zweitauflage 1959 geänderter Titel „Die verspätete Nation“ zum Schlagwort wurde, verteidigte auch Plessner die Philosophie gegen das moderne Denken. Er verbindet seine treffende klassische Analyse des antiwestlich-antimodernen deutschen Sonderwegs mit einer NS-Deutung aus einer allgemein-europäischen Krise heraus: Es handle sich um „eine welthistorische Kritik am Wert Europas“, um eine von der Reformation eingeleitete „Erschütterung des europäischen Selbstbewußtseins“. Somit erkennt er zwar richtig im Nationalsozialismus „Deutschlands Protest gegen den politischen Humanismus der westlichen Welt“, der „nur auf dem Hintergrund des allgemeinen europäischen Niedergangs verständlich“ würde, anerkennt den westlichen Weg aber keineswegs als Alternative zur Überwindung der Krise: Da Deutschland das „europäische Schicksal in der Potenz“ erlebte, stellte es nach dem Weltkrieg die weitere Gültigkeit des „politischen Humanismus“, „den Boden der humanistisch-liberalen Tradition“ der siegreichen Westmächte in Frage. 

So deutet er das demokratische Versailler System, das eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in der großdeutschen demokratischen Tradition von 1848 verhindert habe, als Voraussetzung und Rechtfertigung der gegen die „Prinzipien des politischen Humanismus“ und „einer demokratischen Verfassung nach westlichem Muster“ gerichteten „völkischen Revolution“ und des Rückzugs Deutschlands „in eine machtpolitische Position der bloßen Selbstbehauptung“. Dies sei das „Einzige gewesen, was Deutschland noch blieb, nachdem die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland und der Versailler Vertrag die Grundideen der Aufklärung ungewollt, aber mit um so größerer Konsequenz politisch verbraucht und für Deutschland verdächtigt haben“ – eine Behauptung, die der These der Nationalsozialisten von der Notwendigkeit ihres Sieges in Deutschland sehr nahe kommt.

Zur Demokratie meint er, es sei „Tatsache“, daß die Politik der Siegermächte gegenüber Deutschland und das „Koalitionsspiel der republikanischen Parteien“ das „Wertsystem des politischen Humanismus westlicher Prägung bodenlos entwertet haben“. Die Weimarer Republik sei in keiner Deutschland eigenen Staatsidee verwurzelt gewesen und verdanke ihre Unpopularität vor allem der „Tatsache“, „daß sie den als volksfremd, als unorganisch empfundenen Wahl- und Koalitionsmechanismus der Parteien zur Grundlage machte“. Daß Plessner auch dem Kapitalismus kritisch gegenübersteht, zeigt sich in seiner Äußerung, daß die Arbeitslosigkeit nach dem verlorenen Krieg „die längst bestehende Skepsis gegen kapitalistische Wirtschaftsordnung und imperialistische Politik nur verschärfen und in allen Volksschichten verbreiten konnte“.

Vorteil der „kraftspendenden Traditionslosigkeit“

Auch beklagt Plessner, daß im Zuge der Säkularisierung die Philosophie die Theologie zurückgedrängt habe. Mit an Voegelin erinnernden Wendungen beschreibt er „diese im biologischen Materialismus mündende Ersatzfolge“, die „von dem Willen nach Freiheit beseelt“ sein „und den Menschen nicht nur vom Christentum, sondern schließlich von allen Bindungen losmachen will“. Dabei wird vor allem Luther und der Reformation der „Prozeß der Verweltlichung“ angelastet. Ähnlich werden Nietzsche, Kant, Hegel, Marx interpretiert. Am Ende der Entwicklung des modernen Denkens erscheint dann der „biologische Naturalismus“ als letzter „Halt einer völlig entgötterten Zeit“.

Plessner ergänzt an anderer Stelle diese Kritik des modernen Denkens durch eine nicht minder entschiedene Kritik des Fortschritts. Der kapitalistisch-industrielle Prozeß müsse in die Unfreiheit führen, weil er sich im Laufe seiner Entwicklung zu einer bloßen Methode reduziert habe, der jegliche religiöse Sinngebung verlorengegangen sei. Die „Fragwürdigkeit des Fortschritts“ habe dazu geführt, daß sich das 20. Jahrhundert „der von den großen Pessimisten des vergangenen Jahrhunderts vorausgesagten Auflösung wirklich“ gegenübersehe.

Auf diesem Hintergrund relativiert sich auch die ausgezeichnete Analyse des deutschen antidemokratischen Sonderwegs: Hier die protestantisch-obrigkeitlich-staatskirchliche, auf Reichsidee und Volksgedanken gestützte Entwicklung, im Westen mit Frankreich die katholisch-demokratisch-aufklärerische, auf dem neuzeitlichen Nationalstaatsgedanken beruhende Tradition. Dabei erfährt der deutsche Weg in Umkehrung der Begriffe wiederum eine eigentümlich-zwiespältige Bewertung. Einerseits hält Plessner Deutschland, da unbelastet von der demokratischen Tradition des Westens, für besonders geeignet, neue Wege aus der Krise heraus zu finden: Der im Vergleich zu England und Frankreich geringere Einfluß einer „weltbürgerlichen Zivilisation“ ließ es bei den Deutschen anders als bei den westlichen Nationen nicht zu einer „Absättigung und Formung ihres völkischen Lebens in einem Tradition gewordenen Stil“ kommen. Dies beschreibt er als „kraftspendende Traditionslosigkeit“. 

Andererseits erscheint ihm dieselbe mangelnde Verwurzelung der Aufklärung in der Politik geradezu als Grund für die besonders heftige und frühe Krise dieses modernen Denkens in Deutschland, das – so könnte man folgern – damit der zu erwartenden eigentlichen Krise des Westens zeitlich nur vorausgeht. Plessner nennt nämlich als Ursache dafür, daß die „alten europäischen Staatsvölker und Amerika“ unter dem allgemeineuropäischen „Verfall des heilsgeschichtlichen Bewußtseins“ litten, den Tatbestand, daß dort die frühaufklärerische Tradition des politischen Lebens „immer noch eine machtvolle Hemmung gegen den biologischen Naturalismus“ bilde und dessen „praktische Nutzanwendung verzögere“. Außerdem befinde sich in diesen Ländern eine „besonders kräftige christliche Opposition“ „im Bunde“ mit dieser Tradition. Demgegenüber sei „Deutschlands öffentliches Bewußtsein“ dem Christentum „viel stärker entfremdet“ gewesen, und die Frühaufklärung habe hier keine politische Wirkung erlangen können. Außer der Forderung nach „neuen Werten“ für eine „europäische Erneuerung“ und nach „einer Revolte des Herzens gegen die seelenlos und sinnlos werdende Zivilisation, welche eine ungebrochene menschliche Existenz unmöglich gemacht hat“ bietet Plessner kein eigenes positives politisches Konzept.

In der zweiten, durch eine „Einführung 1959“ erweiterten Auflage seines Werkes ließ Plessner schon durch den neuen Untertitel „Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“ durchblicken, daß er nunmehr den antiwestlichen deutschen, die NS-Machtergreifung begünstigenden Sonderweg mit kritischer Distanz beurteilte, ohne allerdings darauf hinzuweisen, daß die in der Argumentation seines gegenüber 1935 unveränderten Textes zu beobachtende Tendenz, nicht die deutsche Sonderentwicklung, sondern das westliche Denken zum Wegbereiter des NS umzudeuten, im deutschen Weg dagegen eher eine Alternative zum NS zu sehen, in die umgekehrte Richtung gewiesen hatte. Ein Vergleich beider Ausgaben ergibt, daß Plessner an Gliederung, Kapitelüberschriften, Vorwort und Text keine Änderungen vorgenommen hat.