© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Eliten im historischen Visier
Deutschlands militärische Führung zur Zeit des Ersten Weltkriegs
Jürgen W. Schmidt

Lukas Grawe widmet sich als Herausgeber in seinem neuen Buch der militärischen Elite des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. Neben bekannten Namen wie Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff und August von Mackensen sind dabei bislang wenig bekannte oder biographisch kaum bearbeitete militärische Führer erfaßt. 

Beiträge unterschiedlichster Militärhistoriker

Dazu dürften auf jeden Fall der Befehlshaber der deutschen Luftstreitkräfte im Ersten Weltkrieg, General der Kavallerie Ernst von Hoeppner, oder der vom Herausgeber Grawe bearbeitete Stabschef der Heeresgruppe des deutschen Kronprinzen Wilhelm, der General Friedrich Graf von der Schulenburg, gehören. Lukas Grawe gelang es, eine Gruppe von deutschen Militärhistorikern zu bilden, welche auf jeweils 12 bis 14 Seiten ihr biographisches Objekt konzise abhandeln und abschließend Auskunft über den vorhandenen Nachlaß sowie die aktuelle militärhistorische Literatur geben. 

Positiv fällt zum Beispiel auf, daß der vorrangig auf dem Balkan eingesetzte General Hans von Seeckt durchaus kompetent durch die aus Bulgarien stammende Berliner Doktorandin Deniza Petrova abgehandelt wurde. Ansonsten erfolgt die Bearbeitung durch einen wohltuenden Mix älterer Historiker (Dieter J. Weiß über Generalfeldmarschall Ruprecht Kronprinz von Bayern, Theo Schwarzmüller über Mackensen, Michael Epkenhans über Admiral Reinhard Scheer), Historikern der mittleren Generation (Nicolas Wolz über Admiral Franz von Hipper und John Zimmermann über General Max Hoffmann) und jüngeren Historikern. Hier ragen neben der erwähnten Petrova besonders die fundierten, viel neues Material enthaltenden Beiträge von Heiko Suhr (Oberst Max Bauer) und Daniel R. Bonenkamp (General Gerhard Tappen) hervor. 

Erfreulich ist, daß Geheimdienstchef Oberst Walter Nicolai, zu dem in den letzten drei Jahrzehnten viel neues Material auftauchte, durch Markus Pöhlmann vom Potsdamer Militärhistorischen Zentrum der Bundeswehr eine sachkundige Behandlung erfuhr. Man könnte insgesamt von einem sehr gut gelungenen Sammelband sprechen, welcher zu einem durchaus annehmbaren Preis angeboten wird, wäre da nicht der Beitrag von Frank Jacob, welcher sich mit General Ludendorff befaßt. Jacob ist ein 1984 in Schmalkalden geborener Historiker, welcher sich der „Globalgeschichte“ verschrieben hat und im vergangenen Jahrzehnt an verschiedensten ausländischen Universitäten, zuletzt als „Professor für Globalgeschichte“ an der norwegischen Nord-Universitet, tätig war. 

Ludendorff wird selbst sein Ehrgeiz negativ ausgelegt

Fast im Jahrestakt verfaßt der Vielschreiber Jacob Bücher zu den zeitlich und regional unterschiedlichsten Themen. Er streift dabei häufig die Militärgeschichte und ließ sich bislang durch Kritiken nicht beirren, daß eine derartige fachliche Breite notgedrungen auf Kosten der sachlichen Tiefenschärfe gehen muß. Dies läßt sich deutlich am Ludendorff-Beitrag erkennen. Jacob betrachtet Ludendorff in allen Belangen ziemlich kritisch. Kurios wird es aber spätestens, wenn er dem vormaligen Kadetten bescheinigt „ein echter militärischer Karrierist geworden“ zu sein, „für den es nur einen Weg zu geben schien: steil nach oben in der preußischen Militärhierarchie“. So ist das für Offiziere weltweit keineswegs ungewöhnlich. 

Selbst bei Historikern soll es vorkommen, daß man „Karriere machen“ will und dabei zielgerichtet von einer Universität zur andern, von einer wissenschaftlichen Würde zur nächsten hüpft. Auch wurde Ludendorffs Stellung im Generalstab nicht etwa dadurch „erodiert“, daß man ihn 1913 vom Generalstab zum Füsilierregiment-39 als Regimentskommandeur versetzte. Solch ein Wechsel war für alle Generalstabsoffiziere obligatorisch, damit sie nicht betriebsblind wurden und durch fortgesetzten Aufenthalt im Generalstab die Bedürfnisse der Truppe aus dem Auge verloren. Schließlich war der Generalstab für die Truppe da und nicht die Truppe für den Generalstab. 

Ähnlich oberflächlich erfolgt durch Jacob die Bewertung von Ludendorffs Feldherrnleistungen im Jahr 1918, wobei er Holger Afflerbachs beeindruckendes Buch „Auf Messers Schneide – Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor“(München 2018) nicht zu kennen scheint oder nicht gebührend rezipiert. Wohltuend im Vergleich zu Jacobs oberflächlicher, dafür affektgeladener Analyse liest sich die tiefgründige Bewertung von Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (dem Jüngeren), wobei dessen Bearbeiterin Annika Mombauer ältere Forschung mit neuen Ergebnissen verknüpft und ohne Schaum vor dem Mund ein abgewogenes Bild des deutschen General-stabschefs von 1914 zeichnet.

Lukas Grawe (Hrsg.): Die militärische Elite des Kaiserreichs – 24 Lebensläufe. WBG/Theiss Verlag, Darmstadt 2020, gebunden, 320 Seiten, Abbildungen, 25 Euro