© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Der Sozialismus ist eben auch nur ein Glaube
Nach mehr als 120 Jahren liegt erstmals Gustave Le Bons „Psychologie des Sozialismus“ auf deutsch vor
Stefan Pincus

Der Buchtitel „Psychologie der Massen“ von 1895 wurde in zehn Sprachen übersetzt. Das Werk des französischen Anthropologen Gustave Le Bon (1841–1931), in dem er die einsetzen Kritikunfähigkeit und das bis ins Barbarische ausufernde Verhalten des einzelnen in der Masse analysiert, konnte damit weltweite Berühmtheit erlangen. Das Schlüsselwerk der Massenpsychologie ist allerdings beileibe nicht das einzige Werk des Franzosen. Auch seine „Psychologie des Sozialismus“ aus dem Jahr 1898 zum Beispiel hat im Jahr 2020 vielfach die gleiche Aktualität wie zu seiner Entstehungszeit. Daß es in Deutschland praktisch unbekannt ist, dürfte nicht weiter verwundern, denn es lag bis vor kurzem keine deutschsprachige Version vor.

Die nun vorgelegte Übersetzung aus dem Französischen hat kurioserweise kein Vertreter der vielen deutschen Soziologielehrstühle besorgt, sondern ein Ingenieur für Elektrotechnik, was symptomatisch für dieses Land scheinen könnte. Die erste deutsche Ausgabe des prominenten Franzosen konnte Übersetzer Jost Wunderlich zudem nur im Selbstverlag veröffentlichen. 

In seiner Einleitung der Untersuchung von Le Bon ordnet Wunderlich  das Werk aktuell ein und ergänzt damit die Vorworte des französischen Autors zur ersten und dritten Auflage. Zudem gibt es ein Nachwort Le Bons sowie ein Literaturverzeichnis, das den wissenschaftlichen Charakter seiner Analyse unterstreicht.

Argumente und Tatsachen verfangen nur selten

Man gerät leicht in Versuchung, absatzweise aus dem Buch zu zitieren, um die Ursachen, Methoden, Ziele der sozialistischen Apostel und vor allem auch die sozialistische Gegenwart unseres Landes zu beschreiben. So attestiert Le Bon den Sozialisten, „sich zum gleichen Haß auf Kapital und Privatinitiative zu bekennen, zur gleichen Gleichgültigkeit gegenüber der Freiheit, zur gleichen Notwendigkeit, Gefolgsleute zu rekrutieren, um sie durch übermäßige Vorschriften zu regieren. Die ersten wie die letzten fordern, den heutigen Staat zu zerstören, um ihn sofort unter einem anderen Namen wiederherzustellen, dazu mit einer Verwaltung, die sich nur durch viel umfassendere Befugnisse vom gegenwärtigen Staat unterscheidet.“

Le Bon befaßt sich in seinem Werk sowohl mit den Ursachen für die Entstehung der sozialistischen Theorien als auch mit den Gründen, aus denen diese Theorien gerade im Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts eine solche Blütezeit erlebten. Er stellt dar, in welchem Verhältnis die Theorien des Sozialismus zu den Weltreligionen stehen, und charakterisiert ihre „Apostel“. Er erweist sich in seiner Analyse nicht nur als kluger Kenner der menschlichen Psyche, sonder als ebenso visionär: Man meint mehr als einmal staunend, er beschreibe heute lebende Protagonisten der Klima-, Gender- oder der Corona-Hysterie. Zudem ist er auch ein aufmerksamer Beobachter wirtschaftlicher Zusammenhänge in Europa und den USA.

Den größten Wert legt er allerdings auf die Feststellung, daß den sozialistischen Theorien mit Wissenschaft kaum beizukommen sei, sowenig wie ihren Anhängern mit Argumenten. Tatsachen und Argumente könnten nichts bewirken, weil der Sozialismus als Theorie eben ein Glaube sei, der einem tiefen Bedürfnis der menschlichen Seele entspringe; und dieser Glaube generiere Anhänger, die nach Glauben statt nach Wissen dürsten. Den Vernünftigen, den rational Denkenden, denen, die Wissenschaft und Freiheit wertschätzen, mangele es nicht nur an Einsicht in und Verständnis für die Gefährlichkeit der sozialistischen Glaubensbekenntnisse und das reale verbrecherische Tun ihrer Apologeten, sondern vor allem mangele es ihnen an Willen, für die eigene Sache einzustehen. Die Masse der gläubigen Ignoranten, die jetzt keine Augen zum Lesen und Sehen habe, werde diese allzu gegenwärtige Realität noch zur Reue zwingen.

Das Tragische seiner Prognosen aber, worin Le Bon irrte und was auch dieser Kritiker sich 1898 offensichtlich nicht vorstellen konnte, sind zwei Umstände: erstens die gewaltige Blutspur des realen Sozialismus in der Sowjetunion und seinen mittel- und osteuropäischen Vasallenstaaten, in China, Kambodscha, Kuba und aktuell noch in Nordkorea und Venezuela, mit insgesamt weit über 100 Millionen Toten und unvorstellbarem generationsübergreifendem Leid. Und zweitens, daß selbst nach diesen fatalen Erfahrungen die Faszination dieser Ideologie für viele immer noch lebendig ist. 

Gustave Le Bon: Psychologie des Sozialismus. Verlag Tredition, Hamburg 2020, broschiert, 508 Seiten, 21,90 Euro