© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Mal eben übers Schloß fliegen
Zeitreise in die Vergangenheit: Das Projekt „TimeRide“ zeigt deutsche Städte, wie sie einst waren
Claus-M. Wolfschlag

Der Wunsch nach einer Zeitreise beschäftigt seit dem 19. Jahrhundert Literaten und Forscher. Die Anfänge machten die Romane „Ein Yankee am Hofe des König Artus“ von Mark Twain (1889) und „Die Zeitmaschine“ von H.G.Wells (1895). Zahlreich wurde das Motiv in Filmen verarbeitet und führte die Kinobesucher oft in fremde Stadtlandschaften.

Computergrafik und 3D-Effekte machen derartige Reisen immer perfekter. Durch virtuelle Realität wird die optische Simulation von Zeitreisen ermöglicht. Das fand bislang vor allem im engeren Kreis von Architektur- und Geschichtsfreunden Anwendung. So war es bereits in den vergangenen Jahren möglich, Gebäude früherer Jahrhunderte als Computermodell zu durchlaufen oder sich gar im Stil von Google Streetview durch virtuell rekonstruierte historische Straßenzüge zu klicken. 

Das touristische Projekt „TimeRide“ hat die Idee weiterentwickelt und ist dadurch das aktuell innovativste Angebot für Geschichtsinteressierte. In München wurde die TimeRide GmbH 2016 gegründet. Die Gesellschaft entwickelt touristische Konzepte auf virtueller Basis. Besucher können in den Filialen mit VR-Brillen eine Reise in vergangene Jahrhunderte unternehmen.

„Ich habe seit meiner Kindheit eine starke Faszination für Historie und Geschichten empfunden. Das Thema Zeitreisen gesellt sich dann mit etwas Phantasie fast schon automatisch dazu. Man überlegt sich, wie es wäre, selbst in einer anderen Epoche zu leben“, erläuterte Geschäftsführer Jonas Rothe im Interview mit dem Blog skylineatlas.de seine Beweggründe für die Entwicklung. „In diesem Kontext habe ich später in meiner Masterarbeit im Bereich Kulturmanagement ein Konzept für den Einsatz virtueller Realitäten in Museen entwickelt – daraus entstand schließlich die Idee und der Wunsch, das Unternehmen TimeRide zu gründen.“

Etwa neun Monate dauert die Entwicklung von der Idee bis zur Einrichtung einer neuen TimeRide-Filiale. Die virtuellen Stadtrundfahrten spielen dabei in einer Vergangenheit, die für die jeweilige Stadt besonders bedeutungsvoll war. Die darin zu sehenden Stadtbilder wurden anhand bestehender Bauten, alter Fotografien, Postkarten, Gemälde, Filme und Pläne virtuell rekonstruiert. Die Filiale in Köln wurde 2017 eröffnet und führt durch die historische Rheinmetropole mittels einer virtuellen Straßenbahnfahrt. 600 animierte Häuser und 3.000 Personen im Straßenraum sind zu entdecken. Vibrationen und künstlicher Fahrtwind verstärken das realistische Flair. 2018 kam die Dresdner Filiale nahe des Zwingers hinzu. Eine Kutschfahrt führt dabei in das barocke Elbflorenz des Jahres 1719. In der Münchner Filiale nehmen die Besucher an einer virtuellen Ballonfahrt über Bayern teil, bei der 7.000 Jahre geschichtlicher Entwicklung nahegebracht werden. Die Berliner Filiale ermöglicht eine Busfahrt in den 1980er Jahren vor dem Mauerfall. „Ein Bus rollt auf den Checkpoint Charlie zu, die Wachposten versperren den Weg, um die Passagiere zu kontrollieren“, heißt es in der Beschreibung. 2020 kam der Frankfurter Standort hinzu. Eine virtuelle Kutschfahrt führt durch die historische Altstadt am Ende des 19. Jahrhunderts, dann am Main entlang bis zum damals in der Entstehung befindlichen gründerzeitlichen Bahnhofsviertel.

Konzept für Touristen und Einheimische

Das Konzept richtet sich an Touristen, aber auch Bürger, die ihre Stadt einmal anders kennenlernen wollen. In Frankfurt werden Besucher erst in ein Ladengeschäft und einen Salon geführt, wo ihnen ein Basiswissen zu historischen Eckpunkten der städtischen Geschichte vermittelt wird. Danach begibt man sich zu den Sitzen, die VR-Brillen werden aufgesetzt und justiert. Dann geht die recht detailgetreue und lebensechte Fahrt los. Man reist nicht nur an bekannten und verlorenen historischen Fassaden entlang, sondern wird auch Zeuge zahlreicher animierter Straßenszenen des 19. Jahrhunderts.

Die Schilderungen sind nicht tiefgehend, sondern so konzipiert, die eigene Geschichte spielerisch näherzubringen. Auch ist das Konzept noch logistisch verbesserungsbedürftig, da die Gäste Besucherwechsel trotz Brille akustisch mitbekommen. Dennoch ist TimeRide ambitioniert, von einem positiven Geist beseelt und liebevoll gestaltet.