© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Der Flaneur
Trauriger Abschied
Paul Leonhard

Als sie vor mehr als einem halben Jahrhundert das Wochenendhaus errichteten, den Bungalow, wie es zu DDR-Zeiten hieß, waren sie die Jüngsten. Heute sind sie die Ältesten, die letzten der alten Garde, die hier mit eigenen Händen ein kleines Paradies schufen. Alle anderen sind verstorben oder haben verkauft. 

Nun steht auch bei uns dieser Schritt an. Die mit Grundstück und Datsche verbundene Last ist für die Eltern zu groß geworden. Sie haben sich entschieden. Zum Ende der Saison ist Schluß. Die ersten Interessenten waren bereits da. Es fehlt nur noch die Unterschrift unter dem Kaufvertrag.

Eine Übergabe in der eigenen Familie stand nie zur Debatte. Jetzt übernehmen Fremde.

Nicht nur für die einstigen Bauherrn, auch für uns Kinder bedeutet das Abschiednehmen von einem Stück früher Erinnerung. Ich weiß noch, wie die wilden Gräser so hoch standen, daß ich als Siebenjähriger nur knapp über sie blicken konnte. Hier würden wir künftig die Wochenenden und Ferien verbringen, wurde mir zu meinem Entsetzen mitgeteilt. Beim zweiten Besuch, an den ich mich erinnere, war schon das Fundament für die Bodenplatte gegossen. Nebenan standen bereits neue Ferienhäuschen. 

Der Typenbau der DDR sah zwei Möglichkeiten vor, ein Häuschen aus Holz oder eines aus Mauerwerk. Mein Vater hatte sich fürs Mauern entschieden. Als Baumeister übernahm Großvater das Kommando. Ich durfte Ziegel schleppen und zuschauen, wie er die Kelle schwang. Wie schwer es gewesen war, in der Mangelwirtschaft Material zu organisieren und ein Bauvorhaben zu realisieren, ohne selbst im Besitz eines Autos zu sein, war in späteren Jahren eine oft erzählte Anekdote.

Wir Kinder erlebten unsere eigenen, prägenden Geschichten. Wir tobten, wuchsen heran und gingen eigene Wege. Über das Wochenendgrundstück wachte Vater, über jeden hier nötigen Handgriff ebenfalls. Bis zum Ende blieb es sein Reich, in dem wir Kinder nur Gäste sein durften. 

Eine Übergabe innerhalb der eigenen Familie stand nie zur Debatte. Jetzt übernehmen Fremde. Es ist für alle ein trauriger Abschied.