© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Übergriffige Regierung
Jörg Kürschner

Am vergangenen Freitag erlebte man Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) als wohlmeinenden Mahner. „Ich habe nur einen Wunsch für das kommende Jahr: Helfen Sie mit, daß wir in diesen schwierigen Zeiten unsere Aufgaben alle miteinander so gut wie möglich für unsere wunderbare Demokratie erfüllen können.“ Was war geschehen? Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus hatte dem Steinzeitparlamentarier, der dem Bundestag seit 1972 ununterbrochen angehört und sich auch im nächsten Jahr erneut zur Wahl stellen möchte, zum 78. Geburtstag gratuliert.

Schäubles Bitte wird gerade in Zeiten der Pandemie aufmerksam registriert, die den politischen Alltag erheblich einschränkt. Doch schießt der (protokollarisch) zweite Mann im Staat mitunter über das Ziel hinaus. Jedenfalls stieß sein Vorschlag einer Grundgesetzänderung, ein Notparlament solle an Stelle des Bundestages die Arbeitsfähigkeit der Politik sichern, selbst in den eigenen Reihen auf Widerstand. Ein Notparlament („Gemeinsamer Ausschuß“) mit nur 48 Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat sieht die Verfassung nur im Verteidigungsfall vor. 

Mit Schäubles Plazet kann ein kürzlich von Union und SPD eingebrachter Gesetzentwurf rechnen, der die Aufstellung von Bundestagskandidaten in Corona-Zeiten regeln soll, wenn Versammlungen „in dem dafür vorgesehenen Zeitraum nicht möglich sind“. Im Fall „einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt“ soll das Innenministerium „durch Rechtsverordnung Abweichungen … über die Aufstellung der Wahlbewerber“ zulassen. Bei der Bundestagswahl in einem Jahr könnte dann Innenminister Horst Seehofer (CSU) weitgehend die Regularien wie etwa eine elektronische Abstimmung vorschreiben. Bedingung: Die neun Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses müßten zuvor feststellen, daß eine Kandidatenaufstellung „ganz oder teilweise unmöglich ist“. Der Bundesrat hätte kein Mitspracherecht.

Im Bundestag übten alle Oppositionsfraktionen deutliche Kritik an dem Koalitionsentwurf. Von einem „Verstoß gegen die Gewaltenteilung“ sprach der AfD-Abgeordnete Jochen Haug. FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle sieht das „Parlament seiner Domäne, dem Wahlrecht, durch eine übergriffige Exekutive beraubt“. Grüne und Linke monierten, entgegen früherer Ankündigungen habe die Koalition den Entwurf auf „Naturkatastrophen und ähnliche Fälle“ ausgedehnt, statt diesen auf Pandemien zu beschränken. Während der ersten Lesung wurden Alternativen nicht aufgezeigt, was auch den von der AfD-Fraktion beauftragten Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau überrascht hat. In seinem Gutachten schlägt er vor, zeitweise Liegenschaften wie Kasernen, Opernhäuser, Zirkuszelte, Musikhallen als Versammlungslokale zwecks Kandidatenaufstellung zu requirieren. Eine stundenweise Beschlagnahme privater Räumlichkeiten hält er für zulässig, da die fristgerechte Bundestagswahl ein Gemeinwohlziel von überragender Wichtigkeit sei. Eine nur „stundenweise Überlassungspflicht“ habe mit einer Enteignung nichts zu tun.