© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

An Bodenhaftung verloren
Europäische Union: Kommissionspräsidentin von der Leyen will die EU weiter stärken / Sorge um zunehmenden Zentralismus
Josef Hämmerling

Die „Totengräberin der EU“, „kontraproduktiv“, völlig unrealistisch“. So und so ähnlich fiel ein Teil der Reaktionen auf die „Rede zur Lage der Union“ aus, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der vergangenen Woche in Brüssel hielt. Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen die Absichtserklärung, die Schadstoffemissionen bis 2030 nicht nur, wie vor ein paar Jahren beschlossen, um 40 Prozent, sondern sogar um 55 Prozent senken zu wollen. „Im Mittelpunkt steht unsere Mission, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden“, betonte von der Leyen.

Kampfansage gegen Rußland und China 

Eingehende Prüfungen hätten gezeigt, daß trotz der derzeitigen durch Corona ausgelösten Krise die Umsetzung dieses „Green Deals“ möglich wäre. „Und wenn andere unserem Beispiel folgen, wird die Welt in der Lage sein, die Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten“, zeigte sich die Kommissionspräsidentin optimistisch.

Die Erfüllung dieses neuen Ziels, das von der Leyen als „NextGenerationEU“ bezeichnete, werde „unsere Abhängigkeit von Energieimporten verringern, Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze schaffen und die Luftverschmutzung um mehr als die Hälfte reduzieren.“ Erreicht werden soll dies vor allem durch den Ausbau der Wasserstoffenergie. 

Dem nicht genug. „Wir müssen eine wirklich antirassistische Union aufbauen – von der Verurteilung bis zur Aktion“, so von der Leyen weiter. Hierzu werde die Kommission demnächst einen Aktionsplan vorlegen. So soll die Liste der EU-Verbrechen auf alle Formen von Haßdelikten und Haßreden erweitert werden – sei es aus Gründen der Rasse, der Religion, des Geschlechts oder der Sexualität. Gleichzeitig werde die EU-Kommission den „allerersten Anti-Rassismus-Koordinator ernennen, damit dies weiterhin ganz oben auf unserer Tagesordnung steht und wir direkt mit den Menschen, der Zivilgesellschaft und den Institutionen zusammenarbeiten“. 

Dieser antirassistische Kampf soll alle Bereiche umfassen: So sollen Gesetze zur Rassengleichheit dort verstärkt werden, wo es Lücken gebe. Auch werde die EU-Kommission gegen Diskriminierung in Bereichen wie Beschäftigung, Wohnungswesen oder Gesundheitswesen vorgehen und dies „härter“ als bislang durchsetzen, wenn die Umsetzung hinterherhinke. Von der Leyen stellte klar: „In dieser Union wird die Bekämpfung des Rassismus niemals optional sein.“

Die Kommissionspräsidentin sprach sich auch dafür aus, die internationalen Gremien weiter zu stärken. Nur durch eine starke Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Welthandelsorganisation (WTO) sei die Bewältigung der Krisen, vor denen die Welt gerade stehe, möglich. Die hierfür notwendigen Reformen von WHO und WTO sollten dabei von der EU angeführt werden, so von der Leyen.

Rußland und China seien sehr wichtige Handelspartner, allerdings müsse die EU auf die Einhaltung der Menschenrechte und eines fairen Handels bestehen, was derzeit nicht gegeben sei. Von der Leyen stellte klar, daß die EU engagiert hinter dem weißrussischen Volk stehe und es bei seinem Freiheitskampf unterstütze. Und solange Rußland Oppositionelle vergifte, wie zuletzt Alexej Nawalny, aber zuvor auch schon in Georgien, der Ukraine und Großbritannien, und sich in der ganzen Welt in Wahlen einmische, sei kein normales Verhältnis möglich. 

Massive Kritik übte von der Leyen an der Homosexuellen-Politik Polens. Die Türkei werde immer ein wichtiger Nachbar sein, allerdings könnten Griechenland und Zypern „beim Schutz ihrer legitimen Souveränitätsrechte immer auf die volle Solidarität Europas zählen“, betonte die EU-Kommissionspräsidentin. In bezug auf die Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien sei „ein Neuanfang vonnöten“. 

„Verschärfte Klimaziele sind kontraproduktiv

„Offenbar hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen jetzt völlig die Bodenhaftung verloren“, erklärte Harald Vilimsky, Leiter der FPÖ-Delegation im Europaparlament. „Die nun vorgeschlagene weitere Verschärfung der Klimaziele kommt einem vor wie ein absurder Wettbewerb in Sachen grüner Moral: Wer bietet noch höhere Einsparungen? Egal, wie realistisch das auch ist.“ Das alles auch noch inmitten des tiefsten Wirtschaftseinbruchs der vergangenen Jahrzehnte beschließen zu wollen, sei völlig kontraproduktiv, so Vilimsky. 

FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl kritisierte dagegen, daß von der Leyen mit ihrem „Zentralismus-Panzer‘ über die Mitgliedsstaaten „drüberfahre“ und die nationalstaatliche Eigenständigkeit „sukzessive aushöhle“. Und sie verrate die eigene Bevölkerung zugunsten von Illegalen und Schleppern. Mit ihrer Strategie werde von der Leyen in Sachen Asyl zur „Totengräberin der EU“, erklärte Ex-Innenminister Kickl in einer ersten Reaktion auf die Rede von der Leyens, in der sie auch gefordert hatte, daß die Seenotrettung Pflicht sei und Teil der EU-Migrationspolitik sein müsse.