© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Bekanntlich sagen nur Kinder und Narren die Wahrheit. In der U-Bahn-Linie Richtung Rosa-Luxemburg-Platz schreit ein irrer Typ: „Ich glaube, Englisch ist freiheitlich, und freiheitlicher als Französisch und viel freiheitlicher als russisch.“ Aber was ist mit Deutsch? Gemäß der psychoanalytischen Trias „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ leide ich noch unter dem Trauma des wiederholten Hausverbots. In Erinnerung an das Streitgespräch im Café der Sowjetzone (nach dem Attentat auf den ehemaligen Doppelagenten Sergei Skripal), als der russische Wirt wieder als Putins Sprechpuppe agierte und ausrastete, als ich ihn dezent auf einen FAZ-Artikel über die Geschichte des identifizierten Nervengiftes hinwies, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: #MeToo – auch ich bin spätes Opfer eines „toxischen“ Raums. Ab sofort, so mein Gedanke, nenne ich mein einstiges Refugium „Café Nowitschók“. Fehlt nur noch ein Aktivist, der den Namen an die Fensterfront pinselt. Schließlich haben Namen eine Bedeutung, glaubt auch Michael Ballweg vom Bündnis Querdenken 711, der meint, Berlins Innensenator Andreas Geisel sei eine „Geis(s)el für die Demokratie“. Dessen jüngste Reise nach Athen, wo er für die Aufnahme der – nach der Brandstiftung in Moria – diesmal tatsächlich „Geflüchteten“ plädierte, bezeugt seine Nähe zu Geiselnahme und Erpressung endgültig. 


Zum Glück können die Schutz- oder vielmehr Schatzsuchenden noch nicht ins Gelobte Land gebeamt werden, anders als das dort installierte fiktive Mitglied der Enterprise-Crew, das vor der ehemaligen Gaststätte am Halberstädter Spiegelsbergen-Bahnhof auf einer Parkbank Platz genommen hat, während an der Stirnseite des Gebäudes Anne Franks Vermächtnis kündet: „Ich glaube an das Gute im Menschen.“ Entsprechend entern immer wieder Passanten das Grundstück, um sich neben das einsame Crew-Mitglied zu setzen und fotografieren zu lassen. Nichts geht über ein fotografisches Gedächtnis. Wenige hundert Meter weiter, im Garten einer befreundeten Familie, steht ein Baum mit Kaiser-Wilhelm-Äpfeln, mit Sichtachse zum Bismarck-Turm auf dem Hügel, passend zum Reichskanzler-Wort: „Wo ich sitze, ist immer oben.“ Fest im Sessel sitzt auch Uwe Steimle im Rahmen seiner Show „sonntags: Steimle“. Folge 18 (siehe Youtube) belehrt nicht nur über die Dialektik des Dialekts („Trösten“ laute auf sächsisch „Dresden“), trefflichst (ab Min. 12) ist der Weg von Marco Polo zu Marco Wanderwitz, und das Fazit: „Heute gehört uns Deutschland – und morgen der ganzen Welt.“