© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Preußen als Fluch des neuen Deutschen Reiches
Tillmann Bendikowski sieht in der Reichsgründung 1871 die Weichen für die Zukunft fehlerhaft gestellt
Eberhard Straub

Es gibt einen antipreußischen Affekt. Dabei ist Preußen längst von der Landkarte verschwunden. Dieser hat sich mittlerweile zu einem antideutschen Affekt erweitert, weil deutsche Geschichte unweigerlich mit Preußen verbunden ist. Preußen, eine klassische europäische Großmacht, wurde schon im Ersten Weltkrieg von den Westmächten – pikanterweise mit Rußland als einem Bollwerk der antidemokratischen Zivilisation verbündet – als aggressiver Staat des Militarismus und der Reaktion ideologisch vehement bekämpft, der dauernd den Frieden in der Welt gefährdet habe. Unvertraut mit jeder höheren Kultur sei Preußen ein Feind der Deutschen, der Freiheit und der Demokratie gewesen, in der die Freiheit sich vollende. 

Preußen bewahrte die föderale Struktur im Reich

Dieses recht grobe Geschichtsbild der Sieger von 1918 – zu denen Rußland dann allerdings nicht mehr gehörte – übernahmen nach dem Zweiten Weltkrieg die Westdeutschen. Ihre bedingungslose Kapitulation vor dem Westen und einer seit 1914 sehr aggressiven, gegen Deutsche und das Deutsche Reich gerichteten Ideologie, verstanden sie nach 1945 allmählich als einen Akt der Befreiung von Irrtümern, Irrwegen und vor allem von der belästigenden Erinnerung daran, einmal mit der deutschen Nation deutsche Hoffnungen verbunden zu haben. Die Nation in einer Welt von Nationen wurde als politische Idee von Westdeutschen, die in Westeuropa einen neuen Großraum für ihre ökonomischen Energien suchten, für nicht mehr zeitgemäß erklärt. 

Der Nationalstaat, der souveräne Staat, ist nur ein Hindernis auf dem Weg zu einer umfassenden westlichen, atlantischen und endlich die gesamte Menschheit umfassenden Wertegemeinschaft. Nie wieder eine deutsche Nation! Das wurde zur ideologischen Rechtfertigung der Bundesrepublik.

In diesem Sinne fordert Tillmann Bendikowski in seinem Buch „1870/71. Der Mythos von der deutschen Einheit“ endlich die Gründung eines deutschen Reiches als Nationalstaat „aus der geschichtspolitischen Vitrine der Deutschen herauszunehmen“. Die Einheit habe nicht die Freiheit gebracht, die in einem preußischen Zentralstaat keine Zukunft haben konnte. Die Freiheit ist für ihn ohne Demokratie nicht denkbar – und Preußen sei nun einmal heillos undemokratisch, illiberal und reaktionär gewesen. 

Deshalb fürchteten Katholiken, Bayern, überhaupt Süddeutsche, aber auch Hannoveraner und erst recht aufgeregte Liberale und Sozialisten den National- und Einheitsstaat. 1866 kämpfte die Mehrheit der Staaten des Deutschen Bundes auf seiten Österreichs gegen Preußen. Sie erlitten mit Österreich zusammen eine Niederlage. Aus politischer Klugheit verbündeten sie sich mit Preußen. Nur noch sonderbare Träumer hofften auf einen Revanchekrieg Österreichs, auf den 1870 Kaiser Franz Joseph nach einigem Schwanken vernünftigerweise verzichtete. 

Während der Debatten über die Kriegsfrage im bayerischen, württembergischen oder badischen Parlament wurden noch einmal heftig mancherlei Unbehagen an Preußen laut, wie Bendikowski weitschweifig schildert, aber dem Kriegseintritt wurde mit großen Mehrheiten dennoch zugestimmt. Es waren vor allem die Patrioten ihrer herkömmlichen Staatlichkeit, die verständlicherweise jammerten und klagten und sich dann doch ins Unvermeidliche fügten. Mit ihnen waren viele Liberale schon immer verbunden, die zäh an der Souveränität ihrer Monarchen festhielten und damit an der vertrauten Selbständigkeit. Das hatte deutschen Liberalen, in kleinen Verhältnissen befangen, von vornherein ein verwelktes Ansehen verliehen, weil lavierend zwischen den beiden deutschen Großmächten, allein auf ihren Vorteil bedacht. Sie mißtrauten den Österreichern ebenso wie den Preußen.

Die Liberalen in der Provinz – meist schulmeisterlich doktrinär – hatten die Verbindung zu den volkstümlichen Kräften verloren, zu den Handwerkern und Volksschullehrern, die massenhaft als deutsche Turner oder Sänger die Sehnsucht nach nationaler Einigung wachhielten. Von ihnen spricht Bendikowski nicht, auch nicht von den Studenten und Professoren, die in der deutschen Universität das gemeinsame Vaterland nach ihren Vorstellungen schon vorweggenommen hatten. 

Marsch der 1848er durch die Institutionen

Außerdem hat er einen sehr unklaren Begriff von Einheit. In alter deutscher Tradition meinte Einheit nämlich Einigkeit unter den Deutschen, die in mannigfachen Sonderformen deutsch waren. Im Lied der Deutschen wird deshalb nicht Einheit, sondern Einigkeit beschworen, die mit Recht und Freiheit des Glückes Unterpfand sind. Einigkeit meinte nicht die Gleichheit der Lebensverhältnisse und des Denkens, von der heute wahrhafte und wehrhafte Demokraten pathetisch reden.  

Einen solchen preußischen Einheitsstaat strebte Preußen nicht einmal in ihrem Königreich an, das föderalistisch organisiert vielen Regionalismen ihre Daseinsberechtigung bewahrte. Das Deutsche Reich von 1871 war gerade kein Zentralstaat, wie der Hamburger Journalist und Historiker dauernd suggeriert, sondern ein Bund von Fürsten und Königen, deren gemeinsame Souveränität der deutsche Kaiser „als Präsidium des Bundesrates“ veranschaulichte. Auch Preußen war sehr darauf bedacht, nicht in Deutschland auf- und unterzugehen. Die Staaten und Fürsten repräsentierten das historische Deutschland. Der Reichstag kam aufgrund des gleichen und geheimen Wahlrechtes weit den demokratischen Erwartungen entgegen. Er war das modernste Parlament Europas, wirklich eine Volksvertretung im Vergleich zum britischen Unterhaus.

Im Reichstag sollte sich das deutsche Volk in seiner nationalen Einheit darstellen, unabhängig von Stämmen und Landschaften. Diese Idee wurde freilich durch die Parteienvielfalt und  ideologische Verkrampfungen kompliziert. Die Einigkeit und Eintracht ergab sich alsbald mühelos unter den Fürsten, während der Reichstag oft genug die deutsche Zwietracht veranschaulichte. Die Freiheiten wurden nicht durch die nationale Einheit in ihrer Entwicklung gehemmt, ein Klischee, das Tillmann Bendikowski wiederholt gebraucht. Ohne Einheit konnte es gar keine Freiheit geben, wie eindringlich das Verhalten der Parlamentarier in den Ländern bestätigte, die unfähig und nicht bereit waren, sich in weite und große Zusammenhänge zu versetzen. Deswegen gab es ja überhaupt ein stürmisches Verlangen nach wahrhafter nationaler Repräsentation, das 1848 viele Deutsche begeisterte.  

Diese Revolution ist nicht letztlich gescheitert, ein Mythos, an den Bendikowski inbrünstig glaubt. Denn die  48er machten ihren Marsch durch alle Institutionen. Der erste Präsident des Reichstages von 1871 war Eduard von Simson, ehedem Präsident der revolutionären Frankfurter Nationalversammlung. Ein gewitzter und sehr wandlungsfähiger Linksradikaler wie Johannes Miquel wurde preußischer Finanzminister und geadelt. Der Kulturkampf gegen die Katholische Kirche hing viel weniger mit preußischer Intoleranz zusammen als mit dem antirömischen Eifer der Liberalen und Kulturprotestanten, vor allem auch bayerischer Antiklerikaler. 

Und um sich vor dem Sozialismus zu fürchten, mußte man nicht unbedingt ein Krautjunker sein. In diesem „Dunkeldeutschland“ unter der Herrschaft preußischen Ungeistes wurden die SPD und das Zentrum zu den stärksten Parteien. In Preußen als Rechtstaat und im Reich gab es im übrigen kein Amt für  Verfassungsschutz, das eine Partei wie die SPD, immerhin eine wirklich herausfordernde Alternative für Deutschland, die unverhohlen einen anderen Staat und ein anderes System forderte, dauernd beobachtet und sie aus der Gemeinschaft anständiger Deutscher ausgeschlossen hätte.   

Sowohl Katholiken wie Sozialdemokraten fanden ihren Platz in der Nation. Sie begriffen sich als deutsch und nicht als reine Tendenzparteien. Das Erstaunliche ist ja, daß auch die Besiegten von 1866 sich rasch mit dem neuen Deutschland versöhnten und im Nationalstaat die zeitgemäße Form anerkannten, die es allen Deutschen ermöglichte, ihre kleine Welt hinter sich zu lassen und sich in die weite Welt hinaus zu wagen und weltläufig zu werden. 

Die Bundesrepublik ist ohne das Deutsche Reich von 1871 gar nicht denkbar. Es wäre deshalb sogar sehr notwendig, sich an dessen liberale, rechtsstaatliche sowie parlamentarische Traditionen zu erinnern, die heute gar nicht mehr gesichert sind, anstatt antipreußische Mythen aufzufrischen. Das verlangt allerdings, die Nation nicht zu dämonisieren, sondern sie als Voraussetzung anzuerkennen, auf die der repräsentative Parlamentarismus und die Demokratie weiterhin angewiesen sind.

Tillmann Bendikowski: 1870 / 71. Der Mythos von der deutschen Einheit. Verlag C. Bertelsmann, München 2020, gebunden, 400 Seiten, 21,85 Euro