© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Versprengte Geister einfangen
Im Banne des Vorgefühls: Botho Strauß’ Essayband „Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern“
Michael Wiesberg

Der kürzlich erschienene Essayband von Botho Strauß gibt Rätsel auf, auch wenn nur ein geringer Teil der hierin enthaltenen Texte wirklich neu ist. Der kryptische Titel seines Werkes lautet „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern“, ergänzt durch den Untertitel „In der Ferne tuten die kleinen Signalhörner und warnen, daß eine Sprengung bevorsteht“. Strauß hat damit bei den bisherigen Rezensenten Verwirrung ausgelöst. Wer sind die Wächter, wer sind die Sprengmeister?

Der Südwestrundfunk (SWR) mutmaßte, daß sich Strauß hier selbst gemeint haben könnte, sei doch der letzte Teil des Buches mit „Sprengsel“ übertitelt. Die taz hält sich mit derartigen Erwägungen erst gar nicht auf, sondern verortet in diesem Buch „die gesammelten Bocksgesänge des dichtenden Sprengmeisters“, der den „großen Knall kaum erwarten“ könne. Der SWR hingegen vermag nichts anderes als „fade Polemiken“ zu entdecken und urteilt, Strauß wolle „den rechten Intellektuellen etablieren“, das sei die „Hauptaufgabe dieser Programmschrift“. 

In der Tat finden sich in dieser „Programmschrift“ zentrale Essays und Aufzeichnungen, darunter „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“ (1991) und vor allem der „Anschwellende Bocksgesang“ (1993) samt „Postscriptum“ (1994), in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zum Feuilletonskandal des gerade wiedervereinigten Deutschland emporgeschrieben, der bis heute nachhallt.

Neben diesen kontrovers aufgenommenen Zeitdiagnosen finden sich die mit feinster Feder gezeichneten Porträts über seine Theaterweggefährten Peter Stein, Dieter Sturm oder Luc Bondy, die Schauspielerin Jutta Lampe oder den Theater- und Opernregisseur Rudolf Noelte, über die Maler Christopher Orr, Gerhard Richter, Odd Nerdrum und Henri Matisse – deren von Strauß angesprochene Kunstwerke zum Teil in einem separaten Bildteil abgedruckt sind –, oder seine Skizzen zu Oswald Spengler oder Konrad Weiß. Aufgenommen wurden zudem seine Dankreden zum Georg-Büchner-Preis (1989) und Lessing-Preis (2001) sowie eine Reihe weiterer Notate. Bei beiden Preisverleihungen war Strauß, der öffentliche Auftritte bis auf wenige Ausnahmen konsequent meidet, im übrigen nicht anwesend. 

Über die literarische Qualität dieser Schriften gibt es keinen Dissens. Wo dann aber ist das „aggressive Gebräu“ (taz) dieses Buches zu verorten, sieht man einmal von Essays wie dem „Anschwellenden Bocksgesang“ ab? Es liegt zu einem Gutteil im jenem Teil des Buches, das mit „Sprengsel“ überschrieben ist; hier hat Strauß auch Texte einfließen lassen, die er eigens für dieses Buch verfaßt hat. Sprengsel hat allenfalls eine lautliche Assoziation mit Sprengstoff; gemeint ist hiermit ein Fanggerät, eine Rute zum Vogelfang. Der Romantiker Ludwig Tieck erwähnt in seinem „Novellenkranz“ eine „magische Sprengsel“, mit der es gelingt, einen ätherischen Geist einzufangen. Sollte es Strauß mit seinen in diesem Teil des Buches versammelten Texten um ähnliches gehen, um das Einfangen versprengter Geister, von Sezessionisten, die die „satte Konvention“ der haltungsversessenen deutschen Diskursmühlen überdrüssig sind?

Tatsächlich spricht einiges dafür, stellt Strauß doch mit schneidenden Worten fest: „Wir haben es mit der in der Geschichte der Bundesrepublik bisher unbekannten Situation zu tun, daß der Mitte von links kein Widerstand, sondern nur Mitläuferschaft geboten wird.“ Es handele „sich um die breiteste Majorität, die bei uns je das Sagen hatte“; eine „beinah grenzenlose linke Mitte, die schärfer als früher jeden ausgrenzen möchte, der nicht einstimmt“. – „Kein Neuerer, kein Umstürzler, nicht einmal ein diabolischer Durcheinanderwerfer in Sicht! Dafür jede Menge denkfaule ‘Querdenker’.“ – „Vielleicht liegt es am suggestiven Normendruck einer letztlich engen, introvertierten Öffentlichkeit“, sinniert er über die Gründe der Mitläuferschaft. Ob nun Gentechnik oder Gendertum, es meldeten sich die immer gleichen „Debattiermasken“ zu Wort, „kleine konsensitive Gesinnungs-Roboter. Diskursstrolche. Ungläubige“. 

Daß mit den „Wächtern“ nicht nur die „Tugendwächter der Political Correctness“ (SWR) gemeint sein können, zeigt ein Blick auf das Werk von Botho Strauß. In seinem Buch „Beginnlosigkeit“ (1992) schreibt Strauß zum Beispiel: „Die magische Welt: die technische in vollendeter Selbstbezüglichkeit. Ein plötzlicher Zusammenschluß, der uns ausschließt, in Verständnislosigkeit zurückließe vor einem Wissen, das über sich selbst verfügt. Die Wächterrolle in einer Kultur wäre beendet. Der schweigende Dienst des Wärters folgte.“ In den „Lichtern des Toren“ (2013) stellt er fest: „Nicht die graue Sorge, die den rastlos Tätigen erblinden läßt, nicht die Sorge, die zum Wächter des Seins bestellt ist, sondern allein die geschäftig-geschäftlich Zukunftssorge ist es, die zur Kritik der Gegenwart dient.“

Strauß ist hier ganz offensichtlich von der Heideggerschen Denkfigur „Wächter im Haus des Seins“ beeinflußt, nach der die  Sprache „das Haus des Seins“ sei; „in ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter in dieser Behausung.“ Sie gehören zu den „Wächtern“ der „großen Literatur und Denkkunst“, die allerdings, so Strauß, ihre Auslöschung durch die „Gewalt des Vergessens“ ertragen müßten. 

Einige „Wächter“ dieser Art finden sich im „Siebengestirn der geistigen Rechten“, das Strauß anspricht: Jünger, Benn, Schmitt, Borchardt, Heidegger, George, Hofmannsthal. Er moniert, „konservativ heute“ sei „eher ein Ausdruck von Zufriedenheit“ und entbehre „der Utopie der schöpferischen Wiederherstellung“; ein ästhetisches Programm, für das insbesondere Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt stehen, denen es um eine Erneuerung eines genuin deutschen Kulturbegriffes ging. Dazu bedarf es der Erinnerung an heute vergessene und verkannte Dichter und Denker. Strauß, der Borchardt hier und auch in seinem Buch „Der Fortführer“ (2018) direkt beim Namen nennt, merkt an, er sei entschieden für „Revolution“, „aber nur für die von Avantgarden“; man werde „ja noch ein Desperado der Digitalgesellschaft bleiben dürfen“. 

„Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben“, stellte Strauß im „Bocksgesang“ fest. Heute bestimmen „Gesinnungs-Minoritäten“ (Strauß) die Agenda, die Individuen als Träger einer „kollektiven Opfer- oder Schuldidentität“ kategorisieren und „Läuterungsdemonstrationen“ (Sandra Kostner) einfordern. In Entwicklungen wie diesen, die die Einlassung von Heiner Müller bewahrheiten, nach der Aufklärung eine „negative Kraft“ sei, die alles zersetze, „was ihr in die Finger“ gerate, erkennt Strauß einen „Selbstverzehr von Freiheit“, die den „Aufstieg der Tyrannei von Barbaren“ begünstigen könnte.

Wer Ohren hat zu hören, kann die Signalhörner hören, die ihre Sprengarbeiten begleiten.

Botho Strauß: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020,  gebunden, 320 Seiten, 26 Euro