© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Leben im besten Deutschland, das es je gab
Publizistik: Eine kurze Geschichte des Kulturpessimismus seit 1949 will die „German Angst“ bannen
Oliver Busch

Ein bißchen auch „Demokratie-Krise“, aber selbstredend nur in Donalds Trumps USA, ansonsten „Hitze, Artensterben, Gletscherschwund, Corona“: „Das Jahr 2020 bietet genügend Anlässe für Weltuntergangsstimmung.“ Und für die Zeit sind das wiederum Anlässe genug, um daraus einen dreiseitigen Schwerpunkt zum Thema „Die (ewige) Angst vor der Apokalypse“ (Ausgabe vom 24. September) zu komponieren. Daß das publizistische Sturmgeschütz der Schwarz-Grünen sein Endzeitszenario allein mit der für 2100 prognostizierten „Klimakatastrophe“ auflädt, trägt konsequent der Ablenkungsfunktion der apokalyptisch unüberbietbaren Klima-Erzählung Rechnung, die sich „mit medialer Unterstützung jederzeit so aktivieren und akzentuieren läßt, daß alle anderen globalen Großprobleme dahinter verblassen“ (Michael Esders, „Sprachregime“, 2020).

Diese ideologische Funktion haben Vorstellungen von Niedergang und nahem Weltende seit Urzeiten erfüllt. Für den Allensbacher Demoskopen Thomas Petersen, der sich darauf beschränkt, „eine kleine Geschichte des Kulturpessimismus in der Bundesrepublik Deutschland“ anhand der Bevölkerungsumfragen seines Instituts zu skizzieren, prägt das altvertraute düstere Denkmuster daher auch nach 1949 „demokratische wie nichtdemokratische Weltbilder“ (Zeitschrift für Politik, 2/2020). Es habe schon die NS-Ideologie durchzogen, sei eng mit den Grünen, die in ihren Anfängen zum „Wettlauf mit der Apokalypse“ aufriefen, und mit „linker Konsumkritik“ verbunden, schwinge in bürgerlicher Kritik am Wertewandel der 1970er Jahre mit und tauche in „rechtspopulistischen Bewegungen der jüngsten Zeit“ unter der Losung „Deutschland schafft sich ab“ (Thilo Sarrazin) wieder auf.

Neigung zu negativen Emotionen

Aus Petersens staatstragender Sicht gab es aber für die in unschöner Regelmäßigkeit kulturpessimistisch aufwallende und instrumentalisierte „German Angst“ vor der Moderne nie den kleinsten realen Anhalt. Lebe der Bundesdeutsche doch seit 70 Jahren in der besten aller möglichen Welten. Trotzdem künden die Allensbacher Umfragen beharrlich von „gewissen Tendenzen in der deutschen Bevölkerung“ sich um die Zukunft zu sorgen. Ernst zu nehmen sei dies aber nur insoweit, wie Kulturpessimismus zur „politischen Gefahr“ mutiere. Die sieht Petersen jedoch nicht mit den schwarzrotgrünen Untergangspropheten der Generation „Energiewende“ heraufziehen, sondern bei „Rechts- und Linksradikalen“ verortet. Pessimistischen Aussagen, unter anderem „Ich glaube, daß es mit Deutschland bergab geht“, hätten 2017 nämlich am häufigsten AfD-Wähler zugestimmt, gefolgt von Anhängern der Linken. 

Die Neigung der Deutschen zu „negativen Emotionen“ und zum „Alarmismus“ habe sich seit den 1980ern zwar abgeschwächt, sei aber keineswegs verschwunden. Darin zeige sich geradezu so etwas wie der vielgeschmähte „Volkscharakter“, den 1981 die „Internationale Wertestudie“ des US-Psychologen Norman Bradburn sozialwissenschaftlich exakt vermessen habe. Auf seiner „Glücksskala“ lagen die Deutschen bei Aussagen über „negative Gefühlsituationen“ einsam vor allen anderen Nationen. Doch letztlich nur, weil sie, da psychisch labil, unter Wahrnehmungsstörungen litten. Die sich heute altersbedingt verschlimmern. Denn unter denen, die sich vor dem technischen Fortschritt fürchten, stimmten der Aussage, man wisse nicht, ob „wir das noch alles beherrschen können“, 75 Prozent der notorisch skeptischen Altersgruppe der über 60jährigen zu.

Auf und Ab von Werten und Normen

Ähnlich verwechsle subjektive Stimmungen mit objektiven Fakten, wer noch 2019 „hartnäckig und gegen alle Evidenz“ davon überzeugt gewesen sei, daß die Zahl der Verbrechen stetig ansteige. Ausweislich der Daten des Bundeskriminalamtes habe das aber nur bis 2007 gestimmt, als die Zahl der Gewalttaten einen Höhepunkt erreichte. Seitdem nehme sie wieder ab. Für solche dreist pauschalisierenden Behauptungen, die nicht einmal die neue ethnische Zusammensetzung der Tätergruppen berücksichtigt, gilt wohl die Faustformel: „Traue keiner Umfrage, die du nicht selbst manipuliert hast!“

Nur ein einziges Mal in 70 Jahren, so räumt Petersen ein, hätten die Trenddaten aus dem Allensbacher Archiv, die partout keinen „größeren kulturellen oder intellektuellen Substanzverlust“ der Bevölkerung anzeigen, einen realen Niedergang „von jahrhundertelang gepflegten kulturellen Beständen“ registriert. Und zwar infolge der sturzbachartigen Verschiebung gesellschaftlicher Normen um 1970.

Noch 1967 bewertete eine klare Mehrheit „klassische bürgerliche Tugenden“ positiv. 1972, nach einem singulären „Wertwandlungsschub“, der den „gesamten Zeitgeist änderte“, war die Zustimmung zu dem, was seit dem 18. Jahrhundert als bürgerliche Tugenden galt, deutlich gesunken. Der Abbau hatte sich in allen sozialen Schichten vollzogen und stets am radikalsten bei denen, die jünger waren als dreißig Jahre. Es sei verständlich, „wenn vor allem ältere Bürger diese Entwicklung als Niedergang empfanden“. Dauerhaft seien diese Tugenden jedoch nicht in Verfall geraten, da 2010 die Zahl der Freunde von Höflichkeit und Ordnung schon wieder höher lag als 1967. Daher dürfte man Symptome des Niedergangs und der Auflösung nie verabsolutieren. Es gebe in freien Gesellschaften, so betet Petersen das Credo des Multikulturalismus nach, nur ein ständiges Auf und Ab von Werten und Normen, die „laufend neu ausgehandelt werden“.