© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Der Ausnahmezustand wird verlängert
Hygiene-Regime: Willkürliches Regierungshandeln rechtfertigt den Gebrauch des Diktaturbegriffs nicht
Felix Dirsch

Zu den Wandlungen der Sprache infolge der in jüngster Zeit erheblich verstärkten Polarisierung zählt eine zuweilen inflationäre Verwendung des Diktaturbegriffs. Ob „Kanzler-Diktatorin“ (Alexander Gauland), Öko- und „Klima-Diktatur“ (Michael Grandt), „Corona-Diktatur“ und „Vorsicht Diktatur!“, so der unlängst erschienene Titel einer Generalanalyse des Publizisten Stefan Schubert – gern wird in die vollen gegangen, um zu demonstrieren, daß es schlimmer nicht mehr geht.

Autoritäre Druckmittel mit Einschüchterungspotential

Nun besitzt das Alltagsvokabular der politisch-sozialen Sprache eine große Variationsbreite. Begriffe können unterschiedlich akzentuiert werden. Das gilt auch für den der Diktatur, der zumeist im Kontext von Ausnahmezuständen verwendet wird. Das macht ihn für polemische Zuspitzungen auch in diesem Corona-Jahr besonders attraktiv.

Der Duden definiert „Diktatur“ als „unumschränkte, andere gesellschaftliche Kräfte mit Gewalt unterdrückende Ausübung der Herrschaft durch eine bestimmte Person, gesellschaftliche Gruppierung, Partei o.ä. in einem Staat“. Im Sinne der tradierten Diktaturlehre, die einen idealtypischen Widerspruch von Demokratie und Diktatur annimmt, gibt es auf dem Gebiet der Europäischen Union keine Diktatur mehr.

Freilich ist der Gewaltbegriff schillernd. Eine lange Diskussion im vorigen Jahrhundert, die von Max Weber über Walter Benjamin und Hannah Arendt bis zu Niklas Luhmann und anderen reicht und vor allem Gewalt im Zusammenhang mit Macht erörtert, beleuchtet die Bandbreite. 

Gewalt kann, wie Zwang, durchaus subtile Seiten offenbaren. So wurden in den vergangenen Jahren autoritäre Druckmittel mit erheblichem Einschüchterungspotential diskutiert. Zwei dieser Methoden sind „Nudging“ und „Framing“, beide als Erziehungsmittel gedacht. Verstockte, die eine andere Meinung als der Hauptstrom vertreten, sollen durch geeignete Informationspräsentation bekehrt werden. Wachsende Möglichkeiten digitaler Überwachung hätten die Debatten über eine „smarte Diktatur“ (Harald Welzer) wohl auch ohne Sars-CoV-2 intensiviert.

Keine fundierte Auseinandersetzung über Diktatur kann ohne Bezug auf ihren locus classicus im römischen Staatsrecht auskommen. Gerade hier zeigen sich die Ambivalenzen dieses Begriffs. Sie bezeichnen das mögliche Umschlagen der temporären Einsetzung eines Alleinherrschers, vornehmlich zur Beseitigung eines Staatsnotstandes, in eine Persistenz dieses Zustandes. Caesar wurde zuerst zweimal zum Diktator auf Zeit, später dann (im Jahre 45 v. Chr.) zum lebenslangen Alleinherrscher ernannt.

Diese Gratwanderung, die auch in der aktuellen Situation eine Rolle spielt, bestimmt gleichfalls die theoretische Reflexion. Von Carl Schmitt stammt die Differenzierung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur. Letztere hat die Möglichkeit, die gesamte Konstitution des Staates umzuwälzen und in alle Lebensbereiche der Menschen einzugreifen.

Fortdauernde Geltung der Grundrechte

In der bekannten Schrift aus dem Jahre 1921 zeichnet der Jurist die vielfältigen Debatten über dieses Phänomen von der Antike über die frühe Neuzeit (Machiavelli, Jean Bodin, Donoso Cortés und so fort) bis in seine Zeit nach. Im 18. Jahrhundert erkennt er einen Umbruch in Theorie und Praxis hin zur souveränen Diktatur. Napoleon I. ist wohl der wirkmächtigste Diktator der Neuzeit vor dem 20. Jahrhundert.

Anlaß des Schmittschen Traktats war der berühmte Paragraph 48 der Weimarer Reichsverfassung, der den Staatsnotstand behandelte und in der Spätzeit der ersten deutschen Demokratie eine verhängnisvolle Rolle spielte. Im Vorwort zu einer Neuauflage 1978 verweist der inzwischen gealterte Staatsrechtslehrer auf die Bedeutung seiner Abhandlung für die unmittelbare Gegenwart. Er spricht von „Notlagen und Krisen“ und den Gefahren, die von den „desintegrierenden Bestandteilen eines absoluten Zwischenzustandes von Krieg und Frieden“ ausgehen.

Seuchen als Beispiel für einen derartigen „Zwischenzustand“ spielen in Schmitts Überlegungen keine Rolle, obwohl die Spanische Grippe um 1920 weltweit wütete. Nach jüngsten Erfahrungen ist das Thema Ausnahmezustand aber auch auf Pandemien auszudehnen, weil diese das Lebensrisiko, vergleichbar mit der Kriegsgefahr, tendenziell erhöhen. Folglich werden staatliche Maßnahmen weithin gefordert.

Die Verhältnismäßigkeit muß gewahrt bleiben

In dieser Situation zeigt sich das alte Dilemma, das in der unlängst publizierten Habilitationsschrift von Anna-Bettina Kaiser („Ausnahmeverfassungsrecht“) thematisiert wird: nämlich dem Staat in existentieller Exzeption eine Verbesserung der Lage zu ermöglichen, aber gleichzeitig hoheitlichem Handeln auch in der Krise Grenzen zu setzen. Selbst im Fall des Staatsnotstandes will die Autorin unumschränkte Herrschaft ausschließen. Sie insistiert deshalb auf der fortdauernden Geltung der Grundrechte. Deren augenblickliche Einschränkung ist zwar im Vergleich zur konstitutionellen Normalität ungerechtfertigt, aber in Relation zu Willkürherrschaften und klassischen Diktaturen gering.

Was ist am gegenwärtigen staatlichen Handeln als willkürlich zu kritisieren? Die gesetzlichen Grundlagen bei Seuchengefahr finden sich im Infektionsschutzgesetz des Bundes (IfSG). Unterschieden werden in Paragraph 28 Abs. 1 IfSG im Rahmen eines Katalogs Maßnahmen zur Eindämmung zu Lasten der Infektionsträger wie zu Lasten anderer Personen. Ein Handeln der Behörden wird somit ermöglicht, aber nicht ohne Einschränkung. Die Regeln der Verhältnismäßigkeit müssen erfüllt sein.

Das Ende März in Kraft getretene Gesetz hat Paragraph 28 Abs. 1 IfSG jedoch geändert, eine Generalklausel wurde eingefügt. Sie überschreitet nach verbreiteter Meinung den rechtsstaatlichen Rahmen. Weiter gilt sie als unverhältnismäßig, da jeder Abwägungsmaßstab fehle, wie unter anderem der Jurist Heribert Lennartz einwandte, zuletzt in der Tagespost. So wird nicht die Schadensgrenze für jene deutlich, zu deren Lasten (besonders wirtschaftlicher Art) die Anordnungen gehen, deren gesundheitliche Lage sich aber durch diese nicht verbessert.

Schrankenlosigkeit und Willkür können sich vor einem solchen Hintergrund schnell ausbreiten. Unkritische Übernahmen des Regierungsnarrativs („die zweite und dritte Corona-Welle wird kommen“) durch Medienvertreter und Regierungsvirologen werden die Lust von Repräsentanten des Corona-Regimes auf Verlängerung der Einschränkungen erhöhen. Schließlich lassen sich so Kontrollmechanismen installieren, gegen die es ansonsten heftigen Widerspruch gäbe.

Man kann in Anlehnung an Carl Schmitt vom „souveränen Hygiene-Regime“ sprechen. Seit Wochen werden die Nutzer von „Qualitätsmedien“ mit Infektionszahlen bombardiert. Zumeist wird jedoch nicht mitgeteilt, daß nur ein Bruchteil der Angesteckten wirklich erkrankt ist. Ein noch kleinerer Teil verstirbt tatsächlich „an“ Corona. Das Robert-Koch-Institut legt entsprechende Zahlen regelmäßig vor.

Die Aufrechterhaltung vieler Verbote und Zwänge, der geänderten Sachlage zum Trotz, wird die Rede von der „Corona-Diktatur“ am Leben erhalten – obwohl sie in dieser Pauschalität keineswegs zutrifft.