© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Wir kommen als Deutsche zu Deutschen
1990 wurden mit der Bundeswehr und der NVA zwei zuvor gegnerische Armeen zusammengeführt
Paul Rosen

Es ist ein kurzer, aber entscheidender Auszug aus der Ansprache von Generalleutnant Jörg Schönbohm, dem Chef des neuen „Bundeswehrkommandos Ost“ am 3. Oktober 1990, als er das Kommando über die deutschen Streitkräfte in den soeben in die Bundesrepublik aufgenommenen neuen Ländern übernahm: „Wir, die wir jetzt als ihre Vorgesetzte, aber auch als Ihre Untergebenen zu Ihnen gekommen sind, kommen nicht als Sieger oder Eroberer. Wir kommen als Deutsche zu Deutschen. Es gilt, die Einheit auch für unsere Streitkräfte umzusetzen – ein Volk, ein Staat, eine Armee – ein Vaterland.“ Es war eine Vision, die viele Beteiligte und Beobachter zunächst verzweifeln ließ. Aber sie wurde wahr.

Es ist unklar, seit wann aus der Vision Realität wurde. Vielleicht war die Flut im Oderbruch 1997 eine wichtige Wegmarke. Zivile Krisenstäbe hatten versagt, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk hatten die Kontrolle verloren. Die Bundeswehr wurde geholt, und deutsche Soldaten halfen in Not geratenen Deutschen, mit den Folgen einer der größten Überschwemmungen der jüngeren Geschichte fertig zu werden. Zum ersten Mal erlebte die Öffentlichkeit nicht die üblichen Ost-West-Debatten über unterschiedlicher Bezahlung, alte Seilschaften und Diskriminierungen aufgrund der Herkunft. Sondern hier packten Soldaten entschlossen an, und da war es egal, ob bayerische oder sächsische Dialekte zu hören waren.

Bis dahin hatte die Armee keinen einfachen Weg zurückgelegt. „Das Bundeswehrkommando Ost hat den Auftrag, die Truppenteile der bisherigen NVA (Nationalen Volksarmee der DDR) in die Streitkräfte des demokratischen Deutschlands zu überführen – das geht nur miteinander, nicht gegeneinander“, hatte Schönbohm formuliert. Die Kritik war groß: Für das einstige SED-Zentralorgan Neues Deutschland waren Schönbohm und seine Bundeswehr-Kameraden „Vollstrecker“ – mit dem Ziel, die NVA plattzumachen. Und in Tageszeitungen in den neuen Ländern wie der Mitteldeutschen Zeitung (Halle) war noch 2017 zu lesen, daß von einer Zusammenführung beider Armeen eigentlich keine Rede sein könne: „Die NVA wurde nicht zugeführt, sondern aufgelöst. Die Bundeswehr ist keine Armee plus, sondern ohne NVA.“  

Solche Positionen verkennen die damalige Situation und daß auch in Westdeutschland schon vor und nach der Einheit zahlreiche Bundeswehr-Standorte und -Einheiten aufgelöst wurden. Einige Zahlen machen das Volumen deutlich. Die Bundesrepublik hatte in den 1980er Jahren eine Armee von 495.000 Mann. 1989 hatte sich die Sicherheitslage in Europa drastisch geändert. Der Kalte Krieg ging zu Ende. 1989 – noch vor der Einheit – beschloß die Bundesregierung, im Zuge der Abrüstungsverhandlungen mit dem Warschauer Pakt den Umfang der Bundeswehr auf 400.000 Soldaten zu verkleinern. Im „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verpflichtete sich das wiedervereinigte Deutschland zu einer Truppenreduzierung auf 370.000 Soldaten.

Letztlich wurden nur 13.000 NVA-Soldaten übernommen

Mit der Wiedervereinigung wuchs die gesamtdeutsche Truppenstärke zunächst auf 585.000 Mann an. Dies hatte auch damit zu tun, daß der letzte DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann eine Reduzierung der NVA lange verweigerte und von einer Weiterexistenz der von SED-orientierten Offizieren geführten NVA ausging – auch nach der Wiedervereinigung. Erst im August 1990 ließ sich Eppelmann die Zusage eines Truppenabbaus abringen. Der Truppenabbau vollzog sich schließlich weitgehend von alleine, weil viele NVA-Soldaten ihren Dienst quittierten und Wehrpflichtige nicht mehr einrückten, so daß mit der Wiedervereinigung keine 100.000 NVA-Soldaten der zuvor etwa 170.000 Mann starken Armee noch ihre Uniform trugen.

Daß es Übernahmen in großem Umfang geben konnte, schloß der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) aus, als er auf einer Kommandeurtagung am 13. Juni 1990 feststellte, daß es bald nur noch eine deutsche Armee geben werde – und zwar eine Armee nach den Grundsätzen der Bundeswehr. Der wichtigste Grundsatz in der Bundeswehr ist der der Inneren Führung mit dem Leitbild des Soldaten als Staatsbürger in Uniform. Zudem ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee. 

In der DDR galten andere Grundsätze. Schönbohm schrieb in der Welt am 25. September 2010, die NVA sei durch die SED beherrscht und indoktriniert worden. Er zitierte: „Die sozialistische Soldatenpersönlichkeit ist der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei treu ergeben (…) ist vom tiefen Haß gegen den Imperialismus und seine Söldner durchdrungen.“ Nach Aufstellungen der Bundeswehr sollen 96 Prozent der Offiziere und Unteroffiziere SED-Mitglieder gewesen sein. Karl-Heinz Carl, damals Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium, stellte fest: „Die NVA war ja vollkommen auf die SED fokussiert, ihre Offiziere förmlich indoktriniert.“

Daß vor diesem Hintergrund überhaupt Offiziere und Unteroffiziere übernommen wurden, war wohl allein der Tatsache zu verdanken, daß die NVA nichts gegen die Demonstranten im Herbst 1989 unternommen hatte, sondern in den Kasernen geblieben war. Ekkehard Richter, erster Divisionskommandeur der Bundeswehr in Leipzig, erinnerte sich 2010: „Wäre das Ende der DDR anders gekommen, hätten wir die NVA nicht so wie geschehen integrieren können.“ Übernommen wurden zunächst für zwei Jahre 6.000 Offiziere, 11.200 Unteroffiziere und 800 Mannschaften. Sie wurden alle intensiv überprüft. Längerfristig blieben schließlich 3.027 Offiziere, 7.639 Unteroffiziere und 2.007 Mannschaften. Nachteilig für die Übernommenen war, daß sie oft bis zu zwei Dienstränge heruntergestuft wurden und daß die Besoldung im Osten nur 86,5 Prozent des West-Niveaus betrug. Wenn der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1991 lobte, „die Soldaten der Bundeswehr lebten die deutsche Einheit vom ersten Tage an vor“, so stimmt das nicht, wenn Kamerad West und Kamerad Ost zusammen in den Einsatz fuhren, Kamerad West aber erheblich mehr Sold bekam als Kamerad Ost.

NVA-Liegenschaften mußten kostspielig saniert werden

Es gab viel böses Blut in der hektischen Wiedervereinigungszeit. Bis heute bekannt ist der Fall eines NVA-Regimentskommandeurs in Bad Salzungen (Thüringen). Er bekam wenige Tage vor der Wiedervereinigung einen Anruf von einem Bundeswehr-Offizier, der mitteilte, er werde seinen Posten übernehmen und brauche ein Quartier. Auf dem Dienstweg war dem NVA-Offizier nichts mitgeteilt worden. Aber die Verstimmungen und Querelen konnten offenbar überwunden werden. „Für mich ist es heute noch ein kaum erklärbares Wunder, daß ausgerechnet Soldaten, die zum Haß aufeinander erzogen wurden, sich relativ schnell geeinigt und verstanden haben“, berichtete Manfred Usczeck, der bei der NVA-Volksmarine Kapitän zur See war und bei der Bundeswehr Fregattenkapitän wurde. Und schon 2005, 15 Jahre nach der Wiedervereinigung, stellte Thomas Hausmann, der in der NVA Oberstleutnant war und in der Bundeswehr diesen Rang nach zwei Zurückstufungen wieder erreichte, in einer Zeitung fest, er könne Unterschiede zwischen Soldaten West und Ost nicht mehr ausmachen. Der Besoldungsunterschied ist inzwischen auch aufgehoben worden.

Positiv wirkte sich auch aus, daß bei Wehrpflichtigen ein innerdeutscher Austausch stattfand. Wehrpflichtige aus den neuen Ländern wurden zum Wehrdienst in die alten Länder geschickt, die aus den alten Ländern in die neuen Länder. Für Schönbohm wurden sie zu „Botschaftern guten Willens von West nach Ost – und umgekehrt“. Auch wenn die „Wessis“ in den Unterkünften einiges zu ertragen hatten. Der damalige Staatssekretär Carl berichtete, wenn er in NVA-Quartiere kam, habe von zwölf Duschen höchstens eine funktioniert, die Heizungen seien defekt gewesen, die Türen undicht. Ähnliches berichtete Schönbohm, der sich bei jedem Standort-Besuch zuerst Küchen und Sanitäranlagen zu zeigen lassen pflegte. Die Quartiere sind heute besser. Und im Einsatz ist es selbstverständlich geworden, daß Kameraden aus alten und neuen Ländern ihren Dienst gemeinsam versehen.  

Eine Rechnung ging nicht auf: Der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hatte auf Milliardengewinne durch den Verkauf von NVA-Liegenschaften spekuliert. Immerhin gehörten 2.350 Liegenschaften zum DDR-Militär, von denen nur noch die wenigsten benötigt wurden und die anderen verkauft werden sollten. Schon bei den ersten Inspektionen wurde festgestellt, daß viele Flächen mit Schadstoffen belastet waren und aufwendig saniert werden mußten. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden fast 50.000 Tonnen Gefahrstoffe geborgen und beseitigt. Aus Waigels Geschäftsidee wurde ein Verlustgeschäft. Außerdem gab es 1,7 Millionen Waffen, 300.000 Tonnen Munition, 440 Kampfflugzeuge und Hubschrauber, 7.850 gepanzerte Fahrzeuge, 3.400 Geschütze und 10.600 Raketen, die überwiegend verschrottet wurden. Einiges wurde auch verkauft. Die wertvollste Übernahme war eine Staffel von 24 modernen Mig-29-Jägern, die die NVA von der Sowjetunion erhalten hatte. Sie waren bis Mitte 2004 in Rostock-Laage beim Jagdgeschwader 73 Steinhoff im Einsatz, wurden dann aber an Polen abgegeben.

Bereits zum 1. Juli 1991 wurde das Bundeswehrkommando Ost wieder aufgelöst. Schönbohms letzte Rede war damals vielleicht noch voreilig, heute haben sich seine Worte bestätigt: „Wir haben die NVA aufgelöst und den Übergang zu gemeinsamen deutschen Streitkräften ohne öffentliche Kontroverse und ohne Gefährdung der Sicherheit unserer Bürger und unseres Landes vollzogen.“