© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Der Grenzvertrag gilt Polen nichts
1920 unterzeichnet Warschau einen Waffenstillstand und läßt Truppen gegen den Nachbarn marschieren
Holger Wartz

Ein neues Großpolen soll entstehen. Das ist das erklärte Ziel der Politiker, die in der aus den Trümmern der zum Ende des Ersten Weltkrieges untergegangenen Kaiserreiche entstandenen polnischen Republik die Macht übernommen haben. Aggressiv in allen Himmelsrichtungen zeigt sich der neue Staat, was nicht nur die deutschen Nachbarn, sondern auch die Litauer zu spüren bekommen. 

Stellvertretend dafür steht der Umgang mit dem vor 100 Jahren geschlossenen Vertrag von Suwalki. 1920 haben die Polen nach dem „Wunder an der Weichsel“ im August, also der von den Sowjets verlorenen Schlacht vor Warschau, militärisch gerade Oberwasser. In der bereits polnisch besetzten Stadt im Nordosten Polens unterzeichnen Litauen und Polen am 7. Oktober 1920 ein Waffenstillstandsabkommen, das drei Tage später in Kraft treten soll. 

Der vom polnischen Oberst Mieczyslaw Mackiewicz unterschriebene Staatsvertrag hält Warschau allerdings nicht davon ab, schon Stunden später seine Truppen über die gerade beschlossene Demarkationslinie marschieren zu lassen. Das als litauische Hauptstadt vorgesehene Vilnius (Wilna) mit seiner überwiegend aus ethnischen Polen, Weißrussen und Juden bestehenden Bevölkerung wird vom polnischen General Lucjan Zeligowski kampflos besetzt. Zuvor war die Stadt gerade erst  im sowjetisch-litauischen Friedensabkommen den Litauern von der Roten Armee übergeben worden.

Geschickt wartet Marschall Józef Pilsudski als polnisches Staatsoberhaupt die Reaktionen der Weltöffentlichkeit ab, ehe er – als diese ausbleiben – die Aktion autorisiert und die Verantwortung übernimmt. Dargestellt wird der Überfall, wie schon in Oberschlesien, als „unabhängiger Aufstand der polnischen Minderheit“ und deren notwendig gewordener Schutz.

Klima zwischen Litauen und Polen nachhaltig vergiftet

Der zuvor mit Hilfe einer Kommission des Völkerbundes beschlossene Grenzverlauf ist damit vorerst Geschichte. Polen setzt 1920, wie in der gesamten Zwischenkriegszeit, auf eine Politik der Stärke, baut aber gleichzeitig geschickt ein bis heute nachwirkendes Image als Opfernation auf. Zwar stoppt Litauen die polnische Offensive im November, seine Hauptstadt Vilnius bleibt aber vorerst verloren. Der Völkerbund akzeptiert schließlich den von Polen militärisch geschaffenen Status quo und erkennt im März 1923 die neue polnisch-litauische Grenze an. Litauen bricht dagegen die diplomatischen Beziehungen zu Warschau ab. 

Wie es später die Bolschewisten in der Sowjetunion im Baltikum und Osteuropa kopieren werden, lassen die polnischen Politiker einen formal unabhängigen Staat Mittel-Litauen (Republik Litwa Srodkowa) mit der Hauptstadt Wilna gründen, der dann am 22. April 1922 „auf Antrag des mittellitauischen Parlaments“ mit Polen vereinigt wird. Der folgende jahrzehntelange Konflikt mit Litauen, das auf seinem Anspruch auf Wilna beharrt und eingedenk der ewigen Polonisierungsbestrebungen keinerlei Interesse an einer Wiederherstellung der früheren Adelsrepublik Polen-Litauen von 1385 zeigt, ist damit programmiert.

Den polnischen Besatzern von Wilna und des umliegenden Gebietes folgen im September 1939 die sowjetischen, die allerdings die Stadt an die neue, ebenfalls gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit gegründete Litauische Sozialistische Sowjetrepublik abtreten. Wenigstens wird Wilna Hauptstadt.Während des Zweiten Weltkrieges gibt es um Wilna schwere Kämpfe zwischen litauischen und polnischen Partisanen, die vor allem durch Morde an der Zivilbevölkerung gekennzeichnet sind und lange über den Rückzug der deutschen Truppen 1944 hinausdauern.