© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Gastlichkeit seit 1332
Stralsund: Auf ein Bier in einer der ältesten Hafenkneipen Europas
Bernd Rademacher

Wer einen Ausflug in die alte Hafenstadt Stralsund macht, um unten am Kai den Panoramablick auf den Rügendamm, die Ostsee und die alten Backsteingotik-Speicher zu genießen, kommt durch die Fährstraße an ein kleines, windschiefes, gelbes Haus, das rund 50 Meter vor der Wasserkante steht. 

Auf dem Schild an dem schmiedeeisernen Ausleger neben der Tür steht „Hafenkneipe ‘Zur Fähre‘ Anno 1332“. In der Tür steht Hanni, eine kleine resolute Frau mit erdbeerrot geschminktem Mund und feschem Kleidungsstil. Sie fragt: „Haste zwei Stunden Zeit?“ Eine Einladung zu einer Zeitreise: Hanni bittet in ihr gemütlich-schummriges Reich und erzählt ihren Gästen für einen Obolus die bewegte Geschichte des Hauses – einer der ältesten Hafenkneipen Europas.

Hanni heißt Hannelore Höpner und kommt gebürtig aus Leuna. 1999 übernahm die Rothaarige Haus und Kneipe. In den beiden winzigen Schankräumen mit niedrigen Decken und viel dunklem Holz und maritimem Nippes ist sie in ihrem Element. Sie zapft Stralsunder Pils und schmökt dann und wann gerne eine dicke Zigarre.

Ist die „Fähre“ sogar Europas älteste Hafenkneipe? Fest steht: 1278 gab es hier schon nachweislich einen Fährbetrieb an der Außenseite der Stadtmauer. Gut fünfzig Jahre später wird die Kneipe erstmalig erwähnt – noch vor der Geburt des Piraten Klaus Störtebeker. Das „Krugrecht – die Schanklizenz – wurde seit dem Mittelalter durch die Epochen von wechselnden Obrigkeiten immer weiter gewährt. Im 18. Jahrhundert heißt es, das Haus sei „zur Logirung und kleiner Wirtschaft adaptiret.“

Segler und Trinker aus aller Welt

Die Seeleute kamen, um sich aufzuwärmen, da sie an Bord ihrer hölzernen Schiffe kein Feuer machen durften. Auch die Hinrichtung zum Tode verurteilter Piraten auf dem Fischmarkt vor dem Haus zog zahlende Kundschaft an. Die Bewohner des Stralsunder Nicolaiviertels wollten von Reisenden Neuigkeiten und Geschichten hören, und bis in die letzte Nachkriegszeit zählte auch käufliche Liebe zu den Umschlaggütern der ehrlichen Spelunke.

Das Gasthaus überstand Angriffe der Dänen, der Schweden, der Söldner Wallensteins und der brandenburgischen Kurfürsten. Erst die Zeit des Sozialismus beendeten die Gemütlichkeit: Zu DDR-Zeiten standen der Gastraum und die 25 Plätze nur ausgewählten Stammpublikum zur Verfügung. Die Sperrkordel ist heute nur noch eine Relikt. Mit Hanni ist die „Fähre“ wieder zum Anziehungsort für Gäste aus der Region und aus aller Welt geworden: Segler aus England, den Niederlanden, Polen, Skandinavien und sogar aus der Schweiz.

Anekdoten aus der langen Zeit des Bestehens kennt Hanni unzählige, zum Beispiel die von den Motorrad-Rockern, die vor der Theke mit einem Shanty-Chor Bekanntschaft machten. Am nächsten Morgen fuhren die Biker auf ihren Harleys die Sänger in Matrosenkluft zum Auftritt. Oder die vom Segelmacher Julius „Jule“ Guldbrandt, der zum allgemeinen Gaudium einen aufgeweichten Bierdeckel paniert und gebraten verspeiste. 

Oder die von den zwanzig Steuerfahndern, die plötzlich die Kneipe stürmten – aber nicht im Dienst, sondern weil sie nach einer Schulung Durst hatten. Die Geschichten werden noch lebendiger, wenn die Wirtin dazu ihr Spezial-„Fährwasser“ einschenkt, einen exklusiv gebrannten Kümmelschnaps aus einer ganz speziellen Flasche; nur soviel sei verraten.

Der Stadthistoriker Steffen Melle hat  zusammen mit dem Künstler und Fotografen Claude Lebus die „Kneipengeschichten mit Kneipengeschichte“ in dem Buch „Die Hafenkneipe ‘Zur Fähre’“ dokumentiert, das natürlich vor Ort erhältlich ist. Wer es erwirbt, bekommt von Hanni persönlich einen „Stempel“ in sein Exemplar: einen Lippenstiftabdruck ihres Kußmundes. Aber am besten läßt man sich das alles von ihr selbst erzählen. Jeden Sonntag um 15 Uhr bieten Melle und Hanni auf Voranmeldung zudem ganz offiziell „eine Reise durch die ca. 700 Jahre alte Geschichte“ an.

Mit dem „Fähremobil“ können altte und neue Gäste ihr Kneipenerlebnis auch nach Hause oder zu einer Firmenveranstaltung bestellen. Der zum Schankraum umgebaute Caravan ist Hannis „öffentliches Bekenntnis zu alten Gasthäusern und Kneipen, die zunehmend aus Städten und Gemeinden verschwinden, obwohl sie eine nicht zu unterschätzende soziale Funktion haben“.