© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

„Invasion ohne Armee“
Nicht nur Deutschlands Wiedervereinigung, auch die Befreiung der Sowjetvölker jährt sich zum 30. Mal: 1990 erklärte als erstes Litauen die Unabhängigkeit. Ihr Anführer und erster Staatspräsident war Vytautas Landsbergis. Heute warnt er die Deutschen eindringlich vor Putin
Moritz Schwarz

Herr Professor Landsbergis, entwickelt sich Litauen nach dreißig Jahren Unabhängigkeit nun tatsächlich zu einer Diktatur?

Vytautas Landsbergis: Natürlich nicht, bitte hören Sie auf zu scherzen. Anschuldigungen wie diese sind Teil einer konstanten Propaganda, der wir aus Richtung Moskau ausgesetzt sind. Und laut der es für Litauen und das Baltikum ein Verhängnis sei, sich damals ab 1990 dem Westen zugewandt zu haben, statt unter Rußlands Vorherrschaft zu bleiben. 

Für wie gefährlich hält man Rußland im Baltikum tatsächlich? 

Landsbergis: Seine Propaganda ist wirklich sehr aggressiv. Es versucht andere Länder einer regelrechten Gehirnwäsche zu unterziehen. Dabei muß man sich allerdings klarmachen, daß Rußlands Gefährlichkeit in seiner Hoffnungslosigkeit begründet liegt.

Wie meinen Sie das? 

Landsbergis: Rußland leidet an einer fatalen Verkennung seiner Fehler und im ganzen verzweifelten Lage: Es ist wachsender großer Gefahr im Osten ausgesetzt. In nur wenigen Dekaden droht es zum Vasallen Pekings abzusteigen, gar einen Teil seines Territoriums an China zu verlieren, nämlich seine kontinentalen Kolonien im Fernen Osten. 

Also wäre Putins Säbelrasseln ein letztes Zucken – Rußland bald keine Gefahr mehr?

Landsbergis: Nein, denn gerade weil Rußland dem nichts entgegenzusetzen hat, steigt die Gefahr, daß es in seiner Verzweiflung mit Krieg gegen seine Nachbarn reagiert. Und die Gefahr steigt zudem, da es nicht einmal bemüht ist, sich auf diese Herausforderung vorzubereiten.

Warum nicht? 

Landsbergis: Weil das putinistische Rußland völlig gefangen ist in seiner traditionellen antiwestlichen Obsession. Dabei gebietet seine Lage eigentlich ein Bündnis, als Rückendeckung gegenüber China. Doch statt dessen lärmt es gen Westen lieber mit klirrenden Waffen.   

Warum, meinen Sie, erkennt Präsident Putin die Lage nicht? 

Landsbergis: Man muß verstehen, daß er tragischerweise Geisel seiner eigenen Vergangenheit als sowjetischer Agent ist. In ihm spukt das Vermächtnis des Sowjet-Imperiums – die Erinnerung an alte Größe in Gestalt einer stalinistisch-kommunistischen Supermacht in Frontstellung zum verfluchten Westen. Und so versucht Putin – zum Unglück Rußlands, wie zu dem seiner Nachbarn –, in der Hoffnung auf den alten Glanz, wieder in genau diese Rolle zu schlüpfen. 

Halten Sie das für Putins Problem, das er dem Land aufzwingt, oder sind aus Ihrer Sicht alle Russen von dieser Idee befallen? 

Landsbergis: Nicht „alle Russen“, aber zumindest gilt es wohl für Putins Generation, die es nicht vermag, nach Europa mit offenen Augen zu blicken, um zu lernen und Rußland zu einem leistungsfähigen Staat zu machen. Sondern deren Blicke begierig sind – Europa zu beherrschen. Die Idee, das eigene Land zu entwickeln, ist ihnen fremd, wichtig ist allein, Macht über andere auszuüben. Weshalb in Rußland alles möglichst so sein sollte wie zur Glanzzeit des sowjetischen Imperiums. Ergebnis wird aber nicht alte militärische Größe sein, sondern Stagnation – also Unfähigkeit zur Zukunft. Während der Rest der Welt sich immer weiter entwickelt.  

Nochmal: Für wie gefährlich halten Sie Rußland derzeit konkret? Wäre zum Beispiel bereits jetzt Krieg möglich? 

Landsbergis: Haben wir schon – mehr als einen: im Kaukasus, in der Ukraine!

Die Frage zielt auf Europa, das Baltikum, Weißrußland, Polen etc. 

Landsbergis: Auch gegen diese führt Rußland doch längst Krieg – auch gegen Deutschland. 

Sie meinen im übertragenen Sinne?

Landsbergis: Täuschen Sie sich nicht, auf Deutschland ruht sogar vermutlich der Fokus Moskaus – besonders auf dem Deutschland jenseits von Angela Merkel.

Krieg, gemeint nicht im übertragenen, sondern im Sinne: Einsatz der Armee.

Landsbergis: Diese Frage zeigt die begrenzte westliche Sichtweise, denn die russische Invasion, selbst Deutschlands, findet auch ohne Armee längst statt: Es ist eine Invasion Ihres Denkens, Ihrer öffentlichen Meinung, Ihrer Medien, Ihrer Politik und Wirtschaft. Deutschland unterstützt nun ein Nord-Stream-Projekt gemeinsam mit einem Giftmörder! 

Erstens ist Einfluß zu gewinnen nicht das gleiche wie Einmarschieren. Zweitens ist es ein für Großmächte übliches Verhalten – auch die USA tun das, ebenso wie die EU. 

Landsbergis: Nein, denn die Absicht ist eine andere. Intention der USA in Europa etwa ist es, ökonomische und strategische Partner zu haben – die Rußlands dagegen, zu herrschen. Es ist doch kein Zufall, daß nach dem Kollaps der Sowjetunion die Osteuropäer – nach ihrer zuvor erzwungenen „Mitgliedschaft“ – sowohl aus der UdSSR wie auch aus dem Warschauer Pakt heraus und in die Nato hinein wollten. Das zeigt, daß es offenbar einen entscheidenden Unterschied gibt, den Sie nicht ignorieren können. Denn Rußlands geopolitisches Ziel ist „Eurasien“– Chiffre für ein von ihm beherrschtes Europa. 

Könnte es nicht sein, daß Sie, weil das moderne Litauen die Hälfte seiner Geschichte von Rußland besetzt war, nachvollziehbarerweise unter einer Art Paranoia leiden? 

Landsbergis: Nein, gerade deshalb „leiden“ wir an einem realistischen Blick und durchschauen Rußlands immergleiche Absichten. Was man im Westen oft nicht versteht ist, daß für Rußland der Zweite Weltkrieg nie geendet hat, sondern nur gestoppt wurde: die Rote Armee marschierte so weit gen Westen wie möglich. Daß sie schließlich anhielt, bedeutete nicht, daß auch die Intention mit der sie vorgerückt war, dort endete. Und so sind auch aus Putins Sicht die Grenzen Rußlands noch keineswegs festgelegt beziehungsweise nicht gerecht gezogen. Stalin war damals klar – da seine Soldaten Briten und Amerikanern gegenüberstanden –, daß er nun neue Vehikel brauchte, um seine Absichten zu verfolgen. Seine Idee war, den kommunistischen Staat, den er in Deutschland errichtete, als Brückenkopf zu nutzen, um von diesem aus ganz Deutschland zu gewinnen. Etwa indem er es mit der Aussicht auf Wiedervereinigung lockte. Das hat damals zwar nicht funktioniert – zumindest dem Anschein nach –, aber es ist die Tradition, in der Putin und viele seiner Generation stehen und denken. 

Allerdings hat Rußland dann bis 1994 seine Truppen aus Deutschland abgezogen. 

Landsbergis: Rußland war durch die Umstände und weil es den Kalten Krieg verloren hatte, gezwungen, der Wiedervereinigung zuzustimmen. Und es tat dies mit der Absicht, sich zu rächen, indem es Deutschland russifizieren würde.  

Falls diese gewagte These stimmen sollte, ist das allerdings gründlich schiefgegangen. 

Landsbergis: Meinen Sie? Ich würde sagen, eher im Gegenteil. Was ich mit „Russifizierung“ meine, ist eine Invasion in das Denken der Deutschen, mit dem Ziel, ihre Mentalität zu manipulieren. Wodurch? Indem diese das Gefühl haben, daß sie Rußland nie widersprechen dürfen, weil sie schuldig sind. Ich spüre die Präsenz dieser Idee in der deutschen Mentalität ganz deutlich! Rußland ist Opfer, lautet die Formel: Opfer Nazideutschlands, Opfer der Nato, Opfer des westlichen Kapitalismus. Das sind verbreitete Einstellungen in Deutschland, oder etwa nicht? 

Doch schon. 

Landsbergis: Und so halten viele Deutsche den russischen Expansionismus immer nur für eine Reaktion – auf den deutschen Überfall 1941, auf „Provokationen“ der Nato, auf „Verletzung“ der Molotow-Ribbentrop-Abmachungen durch den Westen etc. 

Das sind ja vielleicht auch Realitäten und keineswegs nur Einbildungen. 

Landsbergis: Vor allem ist es die tiefverwurzelte, schambesetzte Idee vieler Deutscher, daß es falsch sei, sich Rußlands heutigen Missetaten zu widersetzen. Die auch von der Vorstellung herrührt, 1941 hätte Deutschland ein friedliches und unschuldiges Land überfallen: Stalins Sowjetunion, die kurz zuvor in Polen und Finnland eingefallen war, Litauen, Lettland und Estland okkupiert hatte. So gestalte sich die Erfüllung von Stalins Schwur an Lenins Sarg, die Sowjetunion zu vergrößern. Nichts könnte falscher sein als dieses Bild von Rußlands Unschuld, das heute noch in Deutschland gepflegt wird. Denn tatsächlich war da nicht ein, sondern waren zwei skrupellose Diktatoren am Werk. Die sich zwar haßten, sich aber aus Opportunismus verbündten. Das erst machte den Zweiten Weltkrieg möglich. Stalin hat vor Freude über den Pakt mit Hitler sogar getanzt. So sah der Beginn des Weltkriegs also tatsächlich aus! 

Woher kommt nach Ihrer Meinung diese deutsche Disposition?

Landsbergis: Immerzu Schuld nur bei sich zu suchen ist ein – entschuldigen Sie – kindisches Verhalten. Vermutlich ist es die Folge der umfassenden Niederlage, die die Deutschen, die Hitler anhingen, erfahren haben. Eine solche Niederlage, die als eine nationale betrachtet wird, hinterläßt tiefe seelische Wunden, auch solche derer sich der Verwundete gar nicht bewußt ist. Einige Deutsche folgern wohl: Wir wurden so vollkommen geschlagen, unsere Frauen so massenhaft vergewaltigt – wir müssen schuldig sein. Denn nur so gewinnt dieses Strafgericht einen Sinn, ohne den es vielleicht nicht zu ertragen gewesen wäre. Nun, ich weiß auch nicht recht, aber ich vermute, so in etwa dürfte der psychologische Mechanismus ebenso bei den Deutschen von heute funktionieren. Folge ist, daß Rußland euch einreden kann, daß der Kampf gegen seinen Expansionismus – der ein Kampf für Freiheit ist – eine Aggression gegen Rußland sei. Doch nein, „Demokratie matters“, das ist, was zählt – etwa in Weißrußland!   

Liegt die deutsche Nachgiebigkeit gegenüber Rußland nicht einfach an dem Dilemma, daß wer droht, notfalls Handeln muß? Kein Deutscher von heute wäre aber „zum Handeln“, zum Krieg gegen Rußland, bereit.

Landsbergis: Widerstand zu leisten bedeutet noch keinen Krieg. Psychologisch sind wir da jedoch bei der alten Frage, mit der die Deutschen 1939 versuchten, die Alliierten einzuschüchtern: „Wollt ihr für Danzig sterben?“Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum Rußland seinen Nachbarn immer wieder mit Krieg droht, obwohl doch auch seine Bürger keinen Krieg möchten? Weil es weiß, daß ihr den Krieg so sehr fürchtet, daß man euch gefahrlos aber wirksam damit drohen kann. Die Lage hat sich jüngst verschärft, dank neuer Formen terroristischer Aggression, durch die klare Ansage: Ziehen Sie es vor, meine Herren Oppositionelle, durch Nowitschok, verabreicht von moskowitischen mittelalterlichen Giftmischern, beseitigt zu werden?

Erinnert Sie das nicht an die Haltung, die auch der Westen inzwischen gegenüber der nichtweißen Welt an den Tag legt? 

Landsbergis: Der Schuldvorwurf wird hier politisch vorgebracht: Ihr seid Kolonialisten gewesen, seid schuldig und müßt zahlen! Doch das ist nur teilweise richtig. Es gab finstere Kapitel in unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit, ja, inklusive Rußland. Aber die Art, wie wir miteinander umgehen sollten,  ist nicht die von Anklage und Schuld, sondern von Kooperation. Deshalb gilt es, so vorwurfsvolles Verhalten zurückzuweisen. Nicht indem man selbst aggressiv wird, sondern indem man Zusammenarbeit anbietet, die Hand reicht – also Zukunft statt Vergangenheit! Verstehen Sie? 

Eingesetzt wird der Schuldvorwurf gegen Europa etwa in Sachen Einwanderung.

Landsbergis: Ich halte es für unmöglich, die ganze EU gegen außereuropäische Migration abzuschotten, und wir müssen lernen, mit ihr zu leben. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch verhindern, daß diese als geopolitische Waffe gegen Europa eingesetzt wird. Ich glaube allerdings, daß es nicht die Einwanderung ist, die Europas Zukunft so einschneidend entscheiden wird. 

Sondern? 

Landsbergis: Die Demographie! Sie ist die Größe, an der unser Schicksal hängt. Und es macht mir große Sorge, daß sich Europa mehr für ein kurzzeitig angenehmes Leben zu interessieren scheint als für sein Überleben. Wichtig ist uns offenbar vor allem unser Wohlstand, nicht unsere Zukunft. Das aber kommt auf die Dauer der Entscheidung gleich, auszusterben. Und eine Ursache dafür ist, glaube ich, daß Europa heute keine „spirituelle“ Vorstellung mehr von sich als Brüdergemeinschaft zu haben scheint. Ja sogar seine Vorstellung von Liebe, selbst zu Kindern, verliert. 

Sie sprechen einem EU-Staat das Wort? 

Landsbergis: Nein, die Nationen werden als solche Gemeinschaften betrachtet und das Zukunftsversprechen auf Friede zwischen den Kulturen sollte fortbestehen. Entscheidend ist auch nicht, ob die EU künftig mehr oder vielleicht auch weniger integriert sein wird. Entscheidend ist, daß man sich als eine Union versteht, die im Geiste der Brüderlichkeit kooperiert – ohne deshalb aber unbedingt einen Einheitsstaat bilden zu müssen. Ich fürchte, viele Europäer sind sich heute nicht mehr bewußt, was für eine Errungenschaft die EU ist. Schauen Sie sich um auf der Welt, dann werden Sie sehen, was es für eine Leistung darstellt, sie als einen europäischen Friedensraum geschaffen zu haben, wie wertvoll sie ist und wie wichtig, sie zu bewahren!            






Prof. Dr. Vytautas Landsbergis, der Kopf der 1988 gegründeten Unabhängigkeitsbewegung Sajudis war von 1990 bis 1992 der erste Präsident der Republik Litauen. Zweimal bekleidete er zudem das Amt des Parlamentspräsidenten. Später war er als Gründer und Chef der konservativen Vaterlandsunion Oppositionsführer, zuletzt Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Geboren wurde der Professor für Musikwissenschaft 1932 in Kaunas.

 


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