© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

„Wir dürfen nicht überdramatisieren“
Corona-Pandemie: Quarantäneregelungen werden von den Ländern unterschiedlich gehandhabt / Todeszahlen auf niedrigem Niveau
Björn Harms

Nun greift auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble durch: Aufgrund der steigenden Corona-Neuinfektionen gilt künftig auch im Bundestag Maskenpflicht. Vorläufig soll der Beschluß, der bei Verstößen Zwangsgelder von bis zu 25.000 Euro vorsieht, bis zum 17. Januar gelten. Die Dynamik im Land nehme jedenfalls zu, warnte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag auch die Bevölkerung. Es sei nötig, sehr aufzupassen. Ziel sei es weiterhin, die Fallzahlen im Land so niedrig zu halten, daß die Gesundheitsämter Infektionsketten nachvollziehen könnten.

Unklar bleibt derzeit vor allem die konkrete Ausgestaltung von Quarantäne-Vorgaben, für die die Bundesländer jeweils eigene Regeln treffen. So haben Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz bereits Einreisebeschränkungen mit Quarantäneregeln und Pflichttests für Reisende aus innerdeutschen Hotspots festgelegt. Ausschlaggebend für die Einstufung als Risikogebiet sind die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), die angeben, wie viele von 100.000 Menschen in den einzelnen Landkreisen, kreisfreien Städten oder Stadtbezirken sich innerhalb von sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert haben. Liegt dieser Wert (Inzidenz) über 50, gelten sie als Risikogebiete.

Laut den am Montag veröffentlichten Daten hat vor allem Berlin Probleme, diesen Wert unter Kontrolle zu bekommen. Hinter den nordrhein-westfälischen Städten Hamm (88,2) und Remscheid (61,3) liegen die Hauptstadtbezirke Friedrichshain-Kreuzberg (59,1) und Mitte (57,1) auf den Plätzen 3 und 4. Auf das niedersächsische Vechta (55,1) folgen mit Neukölln (54,1) und Tempelhof-Schöneberg (52,4) zwei weitere Berliner Bezirke. In Hamm, wo eine türkische Großhochzeit für die rasant gestiegenen Fallzahlen sorgte, gilt deshalb wieder eine Kontaktbeschränkung von bis zu fünf Personen aus maximal zwei Haushalten. In Berlin ist eine Sperrstunde ab 23 Uhr inklusive Alkoholverbot eingeführt worden.

SPD-Politiker Lauterbach warnt vor Verharmlosung

Die Gesamtzahl der Corona-Fälle in Deutschland stieg zuletzt auf über 300.000, rund 28.000 davon gelten als „aktiv“. Am Dienstag kamen immerhin 2.639 Neuinfektionen hinzu. Die Tendenz ist weiter steigend. Doch auch das Testaufkommen in Deutschland ist im Vergleich zu den Vorwochen deutlich gestiegen. Die Zahl der an oder mit einer Corona-Infektion Verstorbenen bleibt auf niedrigem Niveau, was Experten darauf zurückführten, daß sich vor allem jüngere Leute anstecken, die häufig nicht einmal Symptome zeigen. Noch im April waren 1.736 von insgesamt 20.479 in einer Woche in Deutschland Verstorbenen an oder mit einer Corona-Infektion gestorben. In der heißtesten Woche im August, in der die Zahl der Gesamttoten 19.450 erreichte, lag die Zahl der Corona-Toten bei nur noch 27.

„In Deutschland gibt es keine Übersterblichkeit, das heißt, es sterben nicht mehr Menschen als in jedem normalen Jahr“, faßte Andreas Gassen, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die Zahlen in der ARD-Sendung „Extra“ zusammen. Auch der Virologe des Uniklinikums Bonn, Hendrik Streeck, warnte vor einer Überdramatisierung. Die Daten würden mittlerweile zeigen, daß es zumindest keine Übersterblichkeit gebe, äußerte er am Rande des Wirtschaftsgipfels „Neu Denken“. Das Risiko sei gut kalkulierbar. „Wir haben es mit einem ernstzunehmenden Virus zu tun, aber wir dürfen dieses Virus nicht mehr überdramatisieren“, so Streeck.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hingegen warnt weiter vor einer Verharmlosung. Gerade an Schulen sei das Ansteckungsrisiko immens. „Der Präsenzunterricht kann zum Superspreadingevent im Herbst und Winter werden“, so der 57jährige gegenüber der Rheinischen Post.