© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Kein Raum für Animositäten
Paul Rosen

Öffentliche Anhörungen sind ein klassischer Teil des Gesetzgebungsverfahrens. Zumeist läuft das so ab: Die Regierung bringt einen Gesetzentwurf ein, der Bundestag berät diesen und überweist das Vorhaben an den zuständigen Bundestagsausschuß. Dort wird oft beschlossen, eine öffentliche Anhörung durchzuführen, in der verschiedene Experten von Hochschulen oder Verbänden ihre Meinung zu dem Vorhaben äußern können. Meistens verlaufen Anhörungen unspektakulär; die Angaben der Experten führen nicht selten noch zu kurzfristigen Änderungen an den Gesetzentwürfen, ehe sie abschließend im Bundestag beraten und beschlossen werden.

Eine Ausnahme vom gewohnten Kammerton war in der vergangenen Woche in dem für Steuerfragen zuständigen Finanzausschuß zu erleben. Auf der Tagesordnung stand die von der Regierung geplante Erhöhung der seit Jahrzehnten unverändert gebliebenen Pauschbeträge für Behinderte. Die Abgeordnete Franziska Gminder (AfD) hatte in der Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe vom Vorschlag einer Dynamisierung der Behindertenpauschbeträge gelesen und wollte von der Organisation Einzelheiten dazu erfahren.  

Die Antwort der Justitiarin der Lebenshilfe war erstaunlich. Denn sie äußerte sich zunächst nicht zur Sache, und der AfD-Abgeordneten Gminder wollte sie schon gar nicht antworten. Stattdessen wollte sie erst einmal „feststellen, daß die Bundesvereinigung Lebenshilfe ein Verein ist, der für Vielfalt und Inklusion eintritt und insofern ich irgendwie überrascht bin, daß Sie sich jetzt hier für die Position der Menschen mit Be-hinderung so einnehmen. Grundsätzlich haben wir aber – und das sage ich jetzt zu allen anderen Abgeordneten – uns für die Dynamisierung stark gemacht und finden es richtig und wichtig.“

Hier hatte also eine Sachverständige deutlich gemacht, was sie von einer Fraktion des Bundestages grundsätzlich hält (nämlich nichts) und daß sie nicht geneigt sei, der fragenden Abgeordneten direkt zu antworten. Ein solches Verhalten ist – gelinde gesagt – unüblich und hätte ein klares Wort der Sitzungsleitung zur Folge haben müssen, daß es nicht Aufgabe von Sachverständigen ist, ihre persönlichen Animositäten mit einer Fraktion auszuleben. Doch die Finanzausschußvorsitzende Katja Hessel (FDP) schwieg, statt die Lebenshilfe-Vertreterin auf den Boden der Anhörungs-Realitäten zurückzuholen.

Überhaupt hat es die AfD schwer, in den zahlreichen Anhörungen Sach-verständige zu benennen. Es gibt offenbar einen massiven Druck auf Experten, wenn bekannt wird, wenn sie von dieser Fraktion für eine Anhörung benannt werden. Daher verlangte die AfD, auf den Sachvertändigenlisten keine Angaben zur benennenden Fraktion mehr zu machen. Die anderen Fraktionen lehnten dies ab. Patrick Schnieder (CDU) entgegnete: „Wenn Sie mal aufhören würden, Haß zu schüren, dann würden wir auch nicht nur Sachverständige vor Haß schützen, sondern hätten in der Gesellschaft insgesamt ein anderes Klima in der politischen Auseinandersetzung.“