© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Im Kreuzfeuer
Armenien: Das christliche Land wird zwischen der Türkei und Aserbaidschan zerrieben / Gibt es einen Ausweg?
Jörg Sobolewski

Nachdem es aserbaidschanischen Streitkräften durch massive Einsätze von bewaffneten, unbemannten Flugobjekten gelungen ist, befestigte Artilleriestellungen der Armenier auszuschalten, verkündete die Hauptstadt Baku kürzlich die Einnahme zweier wichtiger Ortschaften im Norden und Süden der Region Bergkarabach. Die armenische Seite wies die Behauptungen zurück, räumte aber Gebietsverluste in der umkämpften Zone ein. Im Internet kursierende Bilder und Videos zeigen aserbaidschanische Streitkräfte bei der Eroberung der Stadt, die seit ihrer Eroberung durch armenische Kräfte in den neunziger Jahren als Geisterstadt gilt.

Joseph Dempsey, US-Spezialist für Militärtechnologie, sieht vor allem den Einsatz israelischer „loitering missiles“ („abwartende Rakete“) als Schlüssel für den aserbaidschanischen Vormarsch an. Die sogenannte Kamikaze-Drohne gilt als kostengünstige Lösung für in Stellungssystemen erkaltete Gefechte. Die mehrheitlich verwendete Drohne der Bauart „Harup“ kann bis zu sechs Stunden über dem Gefechtsfeld kreisen und ermöglicht so die gezielte Bekämpfung andernfalls unerreichbarer Ziele.

Die Opferzahlen in dem südkaukasischen Konflikt sind unklar, werden aber mittlerweile im Bereich von Tausenden vermutet. Beide Seiten geben jeweils niedrige eigene und hohe feindliche Verluste an. Nachdem in den Anfangstagen vor allem Soldaten beider Seiten zu den Getöteten und Verletzten gehörten, nimmt mittlerweile auch die Zahl ziviler Opfer zu. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig des gezielten Beschusses ziviler Siedlungsgebiete. Vor allem die aserbaidschanische Seite setzt dabei auch Streumunition gegen die Hauptstadt Bergkarabachs, Stepanakert, ein. Videoaufnahmen aus der Stadt mit knapp 55.000 Einwohnern zeigen Einschläge in Wohngebieten. Sollte der aserbaidschanischen Seite der Vormarsch auf weitere Höhenzüge in Reichweite Stepanakerts gelingen, steht der armenischen Seite eine tage- oder wochenlange Belagerung bevor. Die Opferzahl unter der Bevölkerung könnte dann schnell in die Höhe schnellen.

Das Land, in dem zwar Religionsfreiheit herrscht, doch knapp 90 Prozent der Armenisch-Apostolischen Kirche angehören, hat derweil seine Bemühungen um Militärhilfe bei der etwas mehr als 100 Kilometer Luftlinie entfernten, auch glaubensmäßig nahestehenden traditionellen Schutzmacht Rußland verstärkt. Zuletzt am 2. Oktober warb der stellvertretende Premierminister Mher Grigoryan während einer dringlichen Visite bei Rußlands Präsident Wladimir Putin um Unterstützung. Bisher allerdings vergeblich, Moskau hält nach eigener Aussage an seiner Entscheidung für eine Vermittlungslösung fest. Unbestätigten Informationen zufolge sind im Verlauf der Woche jedoch russische Kämpfer der privaten Wagner-Gruppe in Stepanakert gelandet, um die Armenier zu unterstützen.

Unbestätigte Berichte: „Russische Söldner vor Ort“

Die Schutzmacht des zwar sunnitisch geprägten, aber verfassungsmäßig säkularen Aserbaidschan, die Türkei, hat hingegen ihre Bemühungen noch verschärft. Immer wieder wurden syrische und libysche Söldner über georgischen Luftraum nach Baku transportiert. Die Regierung im georgischen Tiflis verweist offiziell auf ihre neutrale Haltung, verfügt aber hinter den Kulissen über gute Beziehungen zur Türkei.

Im vierten und letzten Nachbarland Armeniens, dem Iran, kam es derweil zu Protesten der aserbaidschanischen Minderheit gegen die freundlichen Beziehungen der islamischen Republik mit dem christlichen Armenien. Demonstranten riefen „Armenier und Perser – Feinde Aserbaidschans!“ Die iranische Obrigkeit reagierte mit massivem Polizeieinsatz und untersagte künftige Demonstrationen in den von Aseris bewohnten Regionen des Irans. Hier leben Schätzungen zufolge zwischen 12,5 und 19 Millionen Aseris – mehr als in Aserbaidschan selbst. Die iranische Regierung verfügt über gute Beziehungen zu beiden Seiten und hat bereits in der Vergangenheit vermittelnd eingegriffen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte beide Seiten dazu auf, „die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und Verhandlungen aufzunehmen“. Ihr armenischer Amtskollege nahm Bezug auf die aktuellen Vorgänge rund um das türkische Auftreten in der Region: „Ich erwarte eine klare Position. Wenn die internationale Gemeinschaft die geopolitische Bedeutung dieser Situation nicht korrekt bewertet, sollte Europa die Türkei bald nahe Wien erwarten“, sagte Premierminister Nikol Paschinjan der Bild am vergangenen Sonntag.

Sein Volk stehe vor einer schicksalhaften Entwicklung. Die Türkei wolle ihren begonnenen Genozid fortsetzen und Armenien vernichten. Der Staatschef Aserbaidschans hingegen dankte in einem von seinem Büro veröffentlichten Brief dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für seine Unterstützung.