© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Entwurzelt im Nirgendwo
Nihilistische Selbstverneinung: Politische Scharmützel bilden bloß noch die Schauseite einer existentiellen Krise
Thorsten Hinz

Um den öffentlichen Wahnsinn zu erfassen, der die Gegenwart beherrscht, reichen politische Kategorien einschließlich des Links-Rechts-Schemas nicht aus. Irrwitzige Kinderkreuzzüge geben der Energiepolitik die Richtung vor und werden von Funktionären der Amtskirchen als moderne Transzendenz-erfahrung gefeiert. Die Zweigeschlechtlichkeit wird als reaktionäres Vorurteil dekonstruiert und gleichzeitig das Platzgreifen archaischer Kulturen samt ihren Machismus als Zeichen von Vielfalt und Weltoffenheit begrüßt. Staatsgrenzen, die die eigene Lebenswelt schützen, werden geschleift, die ökonomische Basis wird durch sachfremde, ideologisch motivierte Auflagen zerstört; kulturelle Analphabeten verschleudern das kulturelle Erbe. Unter dem Eindruck alarmistischer Berichte des UN-Weltklimarates entscheiden Frauen, die sich aufgeklärt und fortschrittlich wähnen, keine neuen Klimakiller in die Welt zu setzen, das heißt kinderlos zu bleiben. Andererseits demonstrieren sie dafür, daß die Tore für die Masseneinwanderung aus der Dritten Welt weit offen bleiben, obwohl die Einwanderer ihren ökologischen Fußabdruck in Europa vervielfachen. 

Doch logische Widersprüche werden gar nicht mehr als Problem wahrgenommen. Die Regression im Geiste hat die Wirklichkeit abgeschafft und die Ebene nihilistischer Selbstverneinung erreicht. Politische Scharmützel bilden bloß noch die Schauseite einer existentiellen Krise, die das Potential einer Krankheit zum Tode besitzt.

„Das Gefühl eines Bruchs gegenüber aller bisherigen Geschichte ist allgemein“, schrieb Karl Jaspers 1931 im Essay „Die geistige Situation der Zeit“. Dieses Gefühl sei weder neu noch ungewöhnlich, bereits bei den alten Ägyptern lasse es sich nachweisen. Neu sei jedoch die „Entgötterung“, die mehr sei als „der Unglaube Einzelner, sondern die mögliche Konsequenz einer geistigen Entwicklung, welche hier in der Tat ins Nichts führt“.

Die zahlreichen zeit- und kulturkritischen Schriften, die nach dem Ersten Weltkrieg publiziert wurden, werden offiziell als historische Dokumente, als zeitgebundene Reflexe auf die Erschütterungen des Weltkriegs und den Vormarsch totalitärer Massenideologien rezipiert, die mit dem Sieg des liberalen Paradigmas 1945 und 1989 keine unmittelbare Relevanz mehr besitzen.

Wer Parallelen zur Gegenwart zieht, handelt sich den Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit ein. Trotzdem handeln die Schrift von Jaspers, Freuds „Unbehagen an der Kultur“, Spenglers „Untergang des Abendlandes“, Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“ oder Edgar Julius Jungs „Herrschaft der Minderwertigen“ – allesamt 90 bis 100 Jahre alt – von unserer Zeit.

In dem Buch „Selbstaufgabe einer Zivilisation? Eine geschichtsphilosophische Betrachtung“ hat der Historiker und Philosoph Simon Kießling den Faden aufgenommen und versucht gleichfalls eine Tiefenanalyse aktueller Entwicklungen. Die Hauptbewegungen der Selbstaufgabe faßt er in die Begriffe „Gender Mainstreaming“, „No Border“ und „One World“.  Sie bezeichnen die allgemeine Entortung des Menschen, seine geographische, rechtlich-politische, geistig-kulturelle, geschichtliche und sogar anthropologische Entwurzelung. Zum geschlechts, volk-, rasse-, nationslosen Wesen, zum „gänzlich abstrakt gewordenen Individuum“ modelliert, soll er „ohne störende Zwischenverbände“ in die „universale Harmonie“ einer „kosmopolitisch vereinigten Menschheit“ eingehen.

Das äußert sich in der normierten Sprache: Das stolze Wort „Bürger“, das die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer konkreten Einheit, zur res publica ausdrückt, wird durch den „Menschen“ ersetzt, der überall und nirgendwo zu Hause ist, und als „besorgter“ oder „Wutbürger“ unter Verdacht gestellt.

Um den geistig-kulturellen Absturz zu ermessen, der aus der Entwurzelung folgt, seien die Verse zitiert, mit denen Sebastian Brants „Narrenschiff“ aus dem Jahr 1494 anhebt: „Im Narrentanz voran ich geh, da ich viel Bücher um mich seh, die ich nit les und nit versteh.“ Der Narr der Renaissance-Zeit hatte immerhin das Gefühl eigenen Ungenügens. In der Endphase der Massendemokratie hat er sich zum Aktivisten des globalen Humanitarismus geadelt und darf sich mächtig fühlen: Zwar kann er die klassischen Geistesgrößen weder lesen noch verstehen, doch er kann sie als Rassisten brandmarken und ihre Denkmäler stürzen.

Umgeformt wird auch jener innere Bereich, der mit Worten wie Würde oder Selbstachtung bezeichnet wird. Kießling zitiert aus einem auf Facebook veröffentlichten Brief, in dem eine Nachwuchskraft der Linkspartei, die von drei Asylanten vergewaltigt worden war, die Gewalterfahrung zu verarbeiten versuchte. Er richtet sich an einen imaginierten „(l)iebe(n) männliche(n) Geflüchtete(n)“, der das wirkliche, von einheimischen Rassisten verfolgte Opfer sei. „Du bist überhaupt kein Problem“, beteuerte sie und schloß mit dem Satz: „Danke, daß es dich gibt – und schön, daß Du da bist.“

Die Akte der Selbsterniedrigung beschränken sich nicht auf Deutschland. In Norwegen bekundete ein laut Selbsterklärung feministischer und antirassistischer Politiker 2016 seine Gewissensqualen, weil ein somalischer Asylbewerber, der ihn vergewaltigt hatte, nach Verbüßung der Haftstrafe in sein Herkunftsland abgeschoben wurde. Der geschändete Wikinger-Nachfahre klagte sich an, weil er „der Grund für seine Ausschaffung in eine unsichere Zukunft“ sei. Dieser Gedanke löse in ihm Schuldgefühle aus, denn schließlich sei der Täter nur „das Ergebnis einer unfairen Welt.“ 

Der Logik der Humanitarismus-Agenda folgend, interpretieren die Opfer ihre Penetrierung, die die Zerstörung ihrer Persönlichkeit intendierte, als Folge der globalen Ungerechtigkeit, an der sie Anteil haben und Schuld tragen. Die fremde Gewalt und ihre Erduldung sind dann die zwei Seiten einer auferlegten Buße, die eine transzendente Gerechtigkeit herstellt.

Es geht noch schlimmer, wie die Reaktion auf den Tod der amerikanischen Studentin Amy Biehl zeigt. Biehl war als weiße Antirassismus-Aktivistin nach Südafrika gegangen, wo sie in einem Township gelyncht wurde. Ihre Eltern beschränkten sich nicht darauf, ihren Stolz über die rassische Vorurteilsfreiheit der Tochter mitzuteilen, die sie in den Township führte, sie setzten sich auch für die Amnestierung ihrer Mörder ein und übernahmen zwei von ihnen in die nach Amy benannte Stiftung. Die Mutter erklärte: „Für mich sind sie Kinder.“ Und: „Für mich ist der Geist Amys in die beiden übergegangen.“ Der „Große Austausch“ hat hier eine qualitative Bedeutung: Die – weißen – Eltern substituieren ihr ermordetes Kind durch seine – schwarzen – Mörder. Neben der anthropologischen Umkehrung haben wir es mit einem Extremfall pervertierter christlicher Ethik zu tun. Jeder Versuch, dagegen zu argumentieren, kann nur ins Bodenlose fallen.

Hier spiegelt sich im Kleinen, im Privaten, was im Großen stattfindet. Warum diese suizidale Selbstzurücknahme? Kießlings Erklärung: Die westlichen Gesellschaften erleben im Zuge der Globalisierung die Entmächtigung ihrer Kultur. Den Verlust ihrer Gestaltungsmacht überkompensieren sie durch aktive Selbstzerstörung. Der westlichen Zivilisation wird ihre entthronte Kultur zur Last, und die Geschichte – der Autor zitiert Spengler – kehrt „wieder ins Geschichtslose und in den primitiven Takt der Urzeit zurück“. Das zum Nomaden gewordene Individuum schleift die  überpersönlichen Formen und Ordnungen von Kultur und Geschichte und gibt sich den elementaren Kräften des Primitiven hin.

Auf originelle Weise zieht der Autor die naheliegende Parallele zur Endzeit des Römischen Reiches, indem er den Doppelcharakter des Christentums herausarbeitet. So gewiß der christliche Geist ein identitäres Element Europas ist, setzt es auch gesellschaftlich destruktive Energien frei. Kießling verweist auf die frühchristliche Theologie des 1. bis 4. Jahrhunderts. Zu ihren zentralen Topoi zählt der „Uradam“, dessen Körperlichkeit nicht fleischlich, sondern die engelsgleiche „Geistleiblichkeit eines Lichtwesens“ ist. In „reiner Schönheit und Makellosigkeit“, ohne animalische Bedürfnisse und unangefochten von den Unbilden der Natur, stellt er eine das Männliche und Weibliche umfassende Ganzheit dar. Die Theologen jener Zeit erklärten Jesus zum zweiten Adam, mit dem die „mannweibliche Vollkommenheit“ sich erneut verwirkliche. In den Gender- und den postkolonialen No-Border- und Eine-Welt-Ideologien, so Kießling, kehre die frühchristliche Erwartung zurück, schwach und duldend in der Nachfolge Christi der Welt die Erlösung zu bringen.

Es ist konsequent, daß die Pop-Kultur Christus längst mit dem Gender-Konstrukt Conchita Wurst kurzgeschlossen hat. Noch weiter geht die isländische Staatskirche, die einen Jesus sowohl mit Bart als auch mit weiblichen Brüsten abbildet. Erklärungs- und Verständigungsversuche fallen hier, wie gesagt, ins Bodenlose. Wer bei Verstand bleiben will, muß wenigstens im privaten Raum die Sezession wählen.

Simon Kießling: Selbstaufgabe einer Zivilisation? Eine geschichtsphilosophische Betrachtung. Gerhard Hess Verlag. Bad Schussenried 2019, broschiert, 173 Seiten, 14,80 Euro