© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Aufrecht fallen
Europa: Der Althistoriker David Engels erklärt, wie man seine Ehre in unwürdigen Zeiten bewahrt
Michael K. Hageböck

Der von Oswald Spengler prognostizierte „Untergang des Abendlandes“ (1918/22) ist für den habilitierten Althistoriker David Engels zur Tatsache geworden, wie er in seiner Studie „Auf dem Weg ins Imperium?“ (2014) durch einen Vergleich der Zerfalls-Indikatoren des Römischen Reichs mit entsprechenden Parametern der Europäischen Union belegt. In „Renovatio Europae“ (2019) entwarf Engels Strategien, um den Schmerz des Untergangs politisch abzumildern. In seinem aktuellen Buch „Was tun?“ gibt er 24 Hinweise, wie ein „Leben mit dem Niedergang Europas“ erträglich gestaltet werden kann, auch wenn „der Zusammenbruch unaufhaltsam ist – also jener Moment, den wir heute erreicht haben“. Eine Hoffnung sieht der Autor allenfalls darin, „die lebendige Essenz unserer abendländischen Kultur für bessere Zeiten konservieren“ zu können.

Zufluchtsorte und Perspektivwechsel

Obwohl sich David Engels von Berufs wegen mit den großen historischen Linien beschäftigt, wendet er sich in seinem jüngsten Werk den kleinen Dingen zu, und so verwundert es nicht, daß er sich auf den Roman „Was tun?“ (1863) von Nikolai Tschernyschewski bezieht, statt das gleichnamige Pamphlet von Wladimir Lenin (1902) zu erwähnen, in dessen Gesinnung die Verunstaltung unserer Zivilisation betrieben wurde, nämlich „Arbeitslosigkeit, Delokalisierung, Werteverlust, Deindustrialisierung, Vergreisung, Familienzerfall, Masseneinwanderung, niedrige Geburtenrate, Scheitern des Bildungssystems, Staatsschulden, Kriminalität.“

„Was tun?“ benennt Zufluchtsorte (wie das Leben auf dem Land, das eigene Anwesen, wirtschaftlich autarke Bereiche), schlägt Perspektivenwechsel vor (Hinwendung zur Schöpfung, Neuentdeckung des Schönen, Wertschätzung des Handwerks), wirbt für Familiengründung sowie für Verantwortung im Alltag, mahnt den Ungehorsam gegenüber falschen Idealen an, fordert auf, sich das Abendland in geistiger Weise zurückzuerobern: „Nicht jeder ist für die Politik oder die Publizistik geschaffen. Daher können der tägliche Kampf am Arbeitsplatz, die Pflege der eigenen Familie, die Verwirklichung des Schönen, die regelmäßige Rückbesinnung auf Traditionen und Transzendenz oder der Austausch im Freundeskreis gar nicht stark genug wertgeschätzt werden.“

David Engels besticht durch klares Denken, präzise Ausdrucksweise und unzählige Beispiele: Die sogenannte Sozialgesetzgebung sei „schon heute ein Mechanismus zur Umverteilung des Vermögens von jenen, die arbeiten, auf jene, welche die ‘richtige’ Haltung zeigen“. Engels mahnt zu mehr Verantwortung mit Geld: „Lassen wir nur das auf der Bank, was wir zur Deckung des täglichen Bedarfs benötigen … Werden wir zu unserem eigenen Handwerker … Denken wir daran, daß wir nicht genug reich sind, um uns etwas anderes leisten zu können als Güter höchster Qualität, denn nur Schwerreiche können es sich erlauben, ihr Geld beliebig durch minderwertige Einkäufe zu verschwenden.“ Versuchen wir, „vom kurzfristigen auf das langfristige Denken umzusteigen“.  Bemühen wir uns, uns „den Bedürfissen der Natur ebenso wie der Wirklichkeit der Jahreszeiten und des Bodens anzunähern“. Verteidigen wir die „Rolle der Mutter in der frühkindlichen Erziehung, helfen wir ihr freiwillig ausgeübtes Recht zu verteidigen und zu stärken, sich so sehr wie möglich um ihre Kinder zu kümmern.“ 

David Engels beklagt den Zustand des permanenten Aktivismus: „Das Leben des abendländischen Menschen ist zum Alptraum einer ewigen Hetzjagd geworden, von dem er nur gelegentlich aufwacht, etwa während des Urlaubs, im Krankenhaus oder, wenn es bereits zu spät ist, auf dem Totenbett.“ Der Europäer müsse Bücher wieder als „wichtigste spirituelle und intellektuelle Nahrung“ entdecken, sich Zeit zur Muße nehmen und auch zum Gebet. Michel Houellebecq schrieb über Engels Buch: „Als ich ‘Was tun?’ las, ist mir der seltsame, sogar unpassende Gedanke gekommen, daß Nietzsche, wenn er heute lebte, vielleicht der erste wäre, der eine Erneuerung des Katholizismus wünschen würde. Während er damals hartnäckig das Christentum als eine ‘Religion der Schwachen’ bekämpfte, würde er heute einsehen, daß die ganze Kraft Europas in jener ‘Religion der Schwachen’ begründet war, und daß Europa ohne sie verloren ist.“

Bereits mit der Gliederung seines Buches in 24 Kapitel gibt David Engels einen Hinweis darauf, daß sein Denken in der griechisch-römischen Antike wurzelt – sowohl die „Ilias“ als auch die „Odyssee“ umfassen 24 Gesänge – und sein Glauben in der biblischen Offenbarung (12 Stämme Israels und 12 Apostel). Dem germanischen Siedlungsraum, von dem aus das Evangelium in die ganze Welt getragen wurde, scheint die Stunde geschlagen zu haben. 24 Stunden sind abgelaufen, das Abendland ist in Nacht gehüllt. Möge das Vademecum von David Engels uns als Öllampe dienen, sei es, um das Dunkel dieser Zeit zu überstehen – sei es, um in der rechten Weise vor den „Bräutigam“ zu treten, wie das Evangelium den Herrn der Geschichte nennt.

David Engels: Was tun? Leben mit dem Niedergang Europas. Renovanem-Verlag, Bad Schmiedeberg 2020, gebunden, 248 Seiten, 16 Euro