© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Agamemnons Schuld
Theater in der NS-Zeit, letzter Teil der JF-Serie: Troja als Schicksalsmythos / Gerhart Hauptmanns „Atriden“-Zyklus
Günter Scholdt

In Paris wurde 1935 Jean Giraudoux’ „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ uraufgeführt. Das Drama erwies sich als Schlüsseltext für das in den 1930ern mal wieder getrübte deutsch-französische Verhältnis und endete, wie provokativ die Prophezeiung auch immer gemeint war, pessimistisch: das heißt, der Krieg zwischen beiden Ländern würde trotz des guten Willens der Protagonisten Hektor und Odysseus ausbrechen. Damit war diesseits und jenseits der Rheins Troja als Symbol des drohenden Zweiten Weltkriegs etabliert. Und auch hierzulande griffen Theaterdichter den Stoff auf.

Gerhart Hauptmann gestaltete das Verhängnis

Von der komischen Seite, die bei Giraudoux stets mitschwingt, taten es Walter Gilbricht, der durch Penelope den Troja-Feldzug zum zerstörerisch-juvenilen Abenteuer erklärte, und Hans Leip. In dessen Komödie „Idothea oder die ehrenwerte Täuschung“ (1941) gesteht Helena ihrem Gatten, vom Trojaner Paris weder ver- noch entführt worden zu sein. Vielmehr habe sie ihn getäuscht und ihm eine ihr gleichende Magd zugeführt. Der gefiel ihre königliche Rolle so gut, daß sie sie beibehielt. Nun bedurfte es nur noch männlicher „Eitelkeit“, „Rachdurst“ und Zerstörungslust, und der Krieg brach aus. Der erschütterte Menelaos spricht vom nun ‘sinnlos vergossenen Blut’ und erhält die sarkastische Antwort: „Hat jemand nur gesiegt, / wird sich der Sinn ergeben. / Und klagen dich die Toten an, / Geschichte deckt die Toten zu / und läßt die Taten leben.“ 

Auch ernste Dramatik behandelte das Modell Troja. 1939 spielte das Berliner Schiller-Theater Ernst Legals „Gott über Göttern“, ein Stück, das am Beispiel Aias des Kleinen der Opposition eine Stimme gab. Auch er kämpfte tapfer vor Troja. Doch spätestens durch Odysseus’ List mit dem Holzpferd gilt ihm der Krieg nur mehr als ehrloses Handwerk für „Abdecker“ und Tummelplatz eitler Machtgelüste. Nur weil die Trojaner Gegner sind, haßt und verteufelt er sie nicht und spricht im Gegensatz zum fanatischen Priester Kalchas sogar davon, daß „Trojas Schönheit verbrennt“ und nicht „Geist“, sondern „Gemeinheit“ siege. Aias sagt sich von Göttern los, die, obwohl beide Völker sie anbeten, solches zulassen oder fördern, und verwirft die Triumphgefühle der Griechen: „Wie soll glücklich werden, wer sieht, was ich sehe: Blindheit, Untergang, Tod.“ 

Wegen Lästerei gegen Götter und Menschen, die er noch unter die Tiere stellt, wird er von König Agamemnon als „ewiger Widersacher“ und „Unzufriedener“ verstoßen: „Wohin käme der Mensch? Jeder schließe sich an den Bruder / Gleichen Blutes, gleichen Landes und stehe fest auf der heiligen Erde / Seiner Geburt. Ihn schützet der Geist der Gemeinschaft.“

Den Trotz des Kleinen bricht dieser Bann nicht: „Damit geschieht mir nichts Neues. Verbannt war ich schon, wollte es sein“, nicht aus „Hochmut“, sondern „Schmerz“. „Niemand ist gern allein“, wenn er es muß. „Und niemandem macht es Freude, abgetrennt sich zu sehen / Von allem, was andere fühlen und wissen und denken.“ Nicht für das „Chaos“ kämpfe er, sondern das „Bessere“. Einzig Kassandra, der ebenfalls Einsamen, fühlt er sich in bösen Ahnungen verbunden. Sie jedoch klammert sich weiterhin an ihren Götterglauben und weist seine Werbung zurück. Unbeirrt fordert Aias ein neues Sehen.

Er wollte die mythische Überlieferung bewahren

Ein gutes Jahr vor Legal am 20. Oktober 1937 kam Ilse Langners Tragödie „Der Mord in Mykene“ auf die Bühne. Darin wird Agamemnons Schuld tödlich gerächt, seine Tochter Iphigenie als göttliches Opfer ausersehen zu haben, um gen Troja segeln zu können. Die Autorin ergänzt dabei das Rachemotiv durch eine soziologisch höchst zukunftsträchtige Motivierung. Agamemnon wird nämlich nicht nur Iphigenies Schicksal angelastet. Die Königin Klytämnestra beansprucht zudem, als Frau das Land viel besser und vor allem friedlicher regiert zu haben, und wehrt sich gegen Agamemnons erneuerte Alleinregentschaft. Als der König sie wegen Ehebruchs, den auch er begangen hat, öffentlich demütigt, kommt es zur Bluttat.

Auf höchstem Niveau nahm sich schließlich Gerhart Hauptmann des Stoffes an. Von 1940 bis 1944 schuf er einen vierteiligen Dramen-Zyklus über das unheilvolle Geschick der Atriden, das im Trojazug seinen Ausgang nahm. Zunächst schrieb er den Schlußteil des gewaltigen Werkes: die 1941 uraufgeführte „Iphigenie in Delphi“. Darin kommt es zum Ende zur allgemeinen Versöhnung und Reinigung der schuldbeladenen Königsgeschwister. Iphigenie selbst, die nach ihrer Entführung zur priesterlichen Mörderin Gewordene, entsühnt sich und andere durch Sturz in die Phädriaden-Schlucht. 

Die Atriden-Tetralogie, deren Rekurs auf archaische Grausamkeit von Goethes harmonischem Griechenbild Abschied nahm, beginnt mit „Iphigenie in Aulis“ und der durch Artemis behinderten Ausfahrt der Hellenen nach Troja. Agamemnon hatte die Göttin beleidigt, was diese mit Windstille bestraft. Der verblendete König, getrieben vom kriegsbesessenen Priester Kalchas, ist bereit, für den Sieg seine Tochter Iphigenie zu opfern. Zunächst lockt er sie und seine Frau Klytämnestra unter falschem Vorwand ins Griechenlager. Danach zögert er und riskiert fast den Aufstand. Schließlich akzeptiert Iphigenie selbst ihr Opfer aus Vaterliebe. Ein schwarzes Toten- und Zauberschiff der Hekate entführt sie, während umgehend Wind aufkommt. Die Tragödie schließt mit Agamemnons (vom Volk beifällig verbreiteten) Ruf: „Die Bahn ist frei! Die Götter sind versöhnt! / Die Anker hoch, gehißt die Segel! Vorwärts / Gen Ilion! Nach Troja! Auf nach Troja!“ 

„Es klang wie eine Befreiung und war der Aufbruch in einen mörderischen Krieg“, kommentierte der Theaterkritiker Günther Rühle die Szene und den daraufhin einsetzenden großen Applaus des Premierenpublikums im Wiener Burgtheater. Die Gründe für diesen „Jubel“ dürften höchst unterschiedlich gewesen sein. Vielleicht war bei Verblendeten Zustimmung darunter im Sinne von Goebbels’ „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Andere mögen die grandiose Aufführung des Stücks beklatscht haben, das 1943 zum Symbol ihrer eigenen Lage geworden war. Alle jedoch dürften gespürt haben, daß hier ihr ganz persönliches Schicksal zur Aufführung kam. Und einige, denen längst die Kriegswende bewußt war, fühlten erschüttert, was der Londoner News Chronicle aus den Theaterkritiken herausdestillierte: „Wien spielt Stück, das Hitler angreift“. 

Man hat es nach 1945, um neben Hauptmanns Anpassung ans Regime auch den „Antifaschisten“ zu zeigen, mit der Fahndung nach Anspielungen ein wenig übertrieben und Verse wie „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen Brot!“ oder „Heil, König Agamemnon! Heil! Heil! Heil!“ überbetont. Der Regisseur Piscator inszenierte 1962, dokumentarisch begleitet, den Zyklus gar gänzlich als konkrete Anklage des NS-Regimes. Doch wird dies Hauptmanns Absichten, der stets auch die mythische Überlieferung bewahrte, nur oberflächlich gerecht. Denn der Schlüsselcharakter des Texts erschließt sich tiefer als durch den bloßen Nachweis von Demagogie, Raserei eines aufgepeitschten Volks und der Bereitschaft, für den Krieg selbst Familienbande abzustreifen.

Die Heimat forderte Rechenschaft

Natürlich steht im Zentrum des Ausgangsdramas die Frage, ob ein Vater sein Kind (die durch Iphigenie verkörperte deutsche Jugend) für einen Vernichtungskrieg opfern darf, selbst wenn diese (aus Vater- alias Vaterlandsliebe) dem zustimmt. Agamemnons vom Gros des Griechenlagers geteilte Umnachtung („der Wahnsinn herrscht! Ganz Hellas ist sein fürchterlicher Herd“) begründet diesen fürchterlichen Entschluß. Doch wo der Mythos hier aktualisierbare Aufklärung bot, bewegte Hauptmann zugleich ein anderes: die Gestaltung eines tragischen Verhängnisses, einer fatalen Verstrickung des Menschen wie speziell der Deutschen.

„Eine wahre Tragödie sehen“, hatte er schon früh formuliert, heiße, „beinahe zu Stein erstarrt, das Angesicht der Medusa erblicken“ und das „Entsetzen vorwegnehmen, wie es das Leben heimlich immer“ bereithält. Wer diesen Mythos auf seine Gegenwart bezog, wurde nach seiner Intention tief vom Atridenfluch berührt. Denn selbst der gegen Troja erfochtene Sieg verhieß ja keine Befriedung. Nun forderte, was Hauptmann im dritten Drama „Agamemnons Tod“ gestaltete, die Heimat Rechenschaft. Rächte Klytämnestra den Kindesraub durch Totschlag ihres Gatten.

Und in der Fortsetzung „Elektra“ wird schließlich der gnadenlose Generationenkonflikt antizipiert, der sich realgeschichtlich durch die „Flakhelfer“-Jahrgänge und ihre unter „Vergangenheitsbewältigung“ firmierenden Vater- und Muttermorde vollzog. Daß sie sich selbst dabei der ethischen Seite der Geschichte zuschlugen, darf als zuweilen pharisäische Variation der uralten Erzählung gelten. Bei den Griechen und Hauptmann wurden auch die Jungen noch von Furien gepeitscht und bedurften der Schlußversöhnung Iphigeniens. Oder werden sie noch heute von ganz anderen Erinnyen geplagt, und nur so erklärt sich ihre weitervererbte Phobie?






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Mit diesem Beitrag endet seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration.