© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Zum kommunistischen Hintergrund von Europas heutigen Haßrede-Gesetzen
Ein rotes Kuckucksei
Paul Coleman

Die Debatte rund um Redefreiheit und „Haßrede“ ist nicht neu, und die Besorgnis über das aktuelle Verständnis von „Haßrede“ wird noch größer, wenn man den Kontext betrachtet, innerhalb dessen der Begriff zum ersten Mal auf der internationalen Bühne erschien. Auch wenn Gesetze, die die Redefreiheit einschränken, auf die ein oder andere Weise bereits seit Jahrhunderten bestehen, entstand die Internationalisierung von Verboten der „Haßrede“ in den späten vierziger Jahren, im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Die Vorstellung, daß eine gewisse Redeweise nicht erlaubt ist, ist, mit Dokumenten gut nachweisbar, ein beharrliches sowjetisches Vermächtnis.

Die aktuellen „Haßrede“-Gesetze können natürlich nicht nur einfach deshalb zurückgewiesen werden, weil sie erstmalig durch den vereinten Druck der kommunistischen Staaten des vorigen Jahrhunderts eingeführt wurden. Dennoch sollte die Tatsache, daß die Regime aller dieser Staaten vollständig zusammengebrochen sind und sich als moralisch bankrott erwiesen haben, bei den modernen Unterstützern von „Haßrede“-Gesetzen zumindest Verdacht erregen. Denn genau diejenigen Nationen, die erstmals so lautstark für „Haßrede“- und „Antidiskriminierungs“-Regelungen kämpften, schufen selten vorbildhafte Gesellschaften. Diskriminierung und Ungerechtigkeit waren weit verbreitet, und die staatliche Zensur wurde mit staatlich unterstützter Gewalt durchgesetzt.

Zweifellos haben die meisten modernen Befürworter von „Haßrede“-Gesetzen ganz andere Ambitionen als die ursprünglichen, und manche davon mögen die besten Absichten haben. Nichtsdestoweniger sollte allein die Geschichte der Internationalisierung von „Haßrede“-Gesetzen sorgfältig betrachtet werden, insbesondere da die Rechtfertigungen für solche Gesetze heute häufig auch argumentativ wieder aufgewärmt werden.

Als die internationale Gemeinschaft sich im Zuge der Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges versammelte, wurde ein Dokument vorbereitet mit der Absicht, die Rechte der Individuen zu garantieren und die Reichweite des Staates zu begrenzen. Am 10. Dezember 1948 versammelten sich weltweite Führungspersönlichkeiten unter dem Dach der gerade gebildeten Vereinten Nationen und gaben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEdM) heraus – ein nicht-bindendes Dokument, das die Absicht hatte, zu verhindern, daß die Schrecken der vergangenen Jahre sich jemals wiederholen könnten.

Bevor das Dokument fertiggestellt wurde, unterzog man es sieben Entwurfsphasen, die sich über zwei Jahre erstreckten. Dieser Vorgang beinhaltete rigorose Entwurfs-Komitees, Kommissionen, Unterkommissionen und die aktive Beteiligung von fast 50 Mitgliedsstaaten. Während dieser Entwurfsperiode entstand die Frage, wie man mit „Haßrede“, wie es heute heißt, umgehen solle, insbesondere in zwei Bereichen: während der Diskussionen über Artikel 19 (Meinungs- und Informationsfreiheit) und über Artikel 7 (Gleichheit vor dem Gesetz).

Bei der Vorbereitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 waren es die Delegierten aus der Sowjetunion, die immer neue Versuche unternahmen, um die Garantie der Rede- und Versammlungsfreiheit einschränken zu lassen. 

Die Schlußversion von Artikel 19 liest sich folgendermaßen: „Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Obwohl dieser Artikel die Absicht hatte, sich vor den Tendenzen von Hitlers Notstandsverordnungen zu hüten, durch welche der Staat seinen Bürgern eigenmächtig die Redefreiheit nahm, fürchteten einige, daß eine zügellose Redefreiheit „Faschisten“ und anderen erlauben könnte, ihre „Propaganda“ zu verbreiten. Daher standen die Entwurfsverantwortlichen von Artikel 19 und 20 vor dem besonderen Problem, wie tolerant eine tolerante Gesellschaft gegenüber denjenigen sein sollte – wie Nazis oder faschistischen Gruppierungen –, die ihrerseits in Wort oder Tat intolerant sind. Bei diesem Punkt herrschte eine eindeutige Uneinigkeit, und es waren die sowjetischen Ergänzungen, die für „intolerante“ Rede nur wenig oder gar keine Toleranz vorschlugen.

Die finale Fassung von Artikel 19 enthält keine Klausel, die der Redefreiheit irgendeine Begrenzung auferlegt. Während des Entwurfsprozesses aber ging dies nicht ohne Kontroversen ab. Während der Diskussionen in der Unterkommission für Informationsfreiheit wurden zwei verschiedene Einschränkungsklauseln vorgeschlagen. Nur zwei Experten widersetzten sich beiden Versionen dieser Einschränkungen – der sowjetische und der tschechoslowakische Delegierte. Jedoch geschah dies nicht, weil diese Ergänzungen die Redefreiheit einschränkten, sondern weil sie ihrer Meinung nach nicht genug einschränkt wurde. Dennoch stimmte die Mehrheit der Unterkommission letztendlich dafür, die vorgeschlagenen Einschränkungsklauseln ganz zu streichen.

Davon unbeeindruckt verfolgten die Sowjets ihre Einwände weiter und unternahmen einige neue Versuche, um die Rede- und die Versammlungsfreiheit einzuschränken. So schlug die sowjetische Delegation beim Dritten Ausschuß der Menschenrechtskommission im Juni 1948 Änderungen vor, die sowohl die Redefreiheit als auch die Versammlungsfreiheit einschränken würden. Es wurde die Formulierung vorgelegt, daß „die Nutzung der Rede­freiheit und der Pressefreiheit zum Zweck, Faschismus und Aggression zu propagieren oder um zum Krieg zwischen Nationen anzustacheln, nicht toleriert werden soll“. Weiter hieß es: „Alle Gesellschaften, Verbände und andere Organisationen faschistischer oder antidemokratischer Natur sind ebenso wie deren Aktivität in jedweder Form gesetzlich unter Androhung von Strafe verboten.“ Doch erneut wurden alle Ergänzungen mit der Absicht, denjenigen die Redefreiheit und Versammlungsfreiheit zu verweigern, die als „Faschisten“ bezeichnet wurden, abgelehnt. Die Sichtweise der Mehrheit lautete, daß, trotz „des Hasses auf den Faschismus, den besonders die UdSSR empfindet“, Toleranz bedeuten solle, daß man sogar den Intoleranten toleriert.

Außerdem, ähnlich wie beim heutigen „Haßrede“-Begriff, war den Delegierten vieler westlicher Staaten nicht klar, was mit dem Begriff „Faschist“ gemeint war, insbesondere da die sowjetische Delegation ihn als „blutige Diktatur des reaktionärsten Teils von Kapitalismus und Monopolen“ definiert hatte. Daher gab es für die Sowjets „lediglich einen graduellen Unterschied zwischen Nazi-Deutschland und den westlichen Demokratien, aber keinen Wesensunterschied“. Mit einer solch vagen Definition eines „Faschisten“ bestand die reale Gefahr, daß der Begriff all das bedeuten könnte, was der Staat dazu bestimmt, und daß dieses Verbot genutzt werden könnte, Menschen oder Gruppierungen einzuschränken, die staatlicherseits nicht gebilligt wurden. Gemeinsam mit anderen westlichen Nationen machte Kanada seinen Widerstand gegen diese unklare Terminologie deutlich. Der UN-Bericht dazu liest sich so:

„Die kanadische Delegation konnte die Theorie, daß Menschenrechte auf diejenigen Menschen begrenzt werden sollten, die durch die kommunistische Doktrin gebilligt und zugelassen werden, während alle anderen als Faschisten für ungesetzlich erklärt werden sollten, nicht akzeptieren. Der Begriff ‘Faschist’, der früher eine eindeutige Bedeutung hatte, (…) wurde jetzt mißbräuchlich verwässert, indem er auf jegliche Person oder Idee angewandt wurde, die nicht kommunistisch war.“

Die sowjetischen Ergänzungen wurden mit wechselndem Erfolg in die AEdM eingebracht. Während die Endversion von Artikel 19 keinerlei Klauseln enthielt, die die Redefreiheit begrenzten – auch eine Rede, die mutmaßlich „faschistisch“ war, wurde nicht als des Schutzes unwürdig herausgenommen –, enthielt Artikel 7 letztendlich ein Recht, vor dem „Aufstacheln zur Diskriminierung“ geschützt zu werden.

Etwa zur selben Zeit begonnen wie die AEdM, aber zwei Jahrzehnte später fertiggestellt, machte der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) bei der Debatte über „Haßrede“ dort weiter, wo die AEdM aufhörten.

Die Nationen, die für die freie Rede eintraten, waren sämtlich westliche Demokratien, wohingegen ein die Meinungsfreiheit bei „Haßrede“ einschränkender Artikel von kommunistischen Staaten des Ostblocks letztendlich durch-gesetzt wurde.

Genau wie in der Entwurfsdebatte der AEdM gab es auch hier intensive Debatten in bezug darauf, in welchem Ausmaß der Staat ermächtigt werden sollte, die Rede einzuschränken. Und auch hier enthüllen die Protokolldetails der Versammlungen und das Wahlprotokoll einen ähnlichen Verlauf wie bei der AEdM: Die europäischen kommunistischen Nationen strebten danach, das „Eintreten für Haß“ zu verbieten, während die liberalen demokratischen Nationen zugunsten der Redefreiheit argumentierten. Anders aber als bei der AEdM waren die kommunistischen Nationen bei der endgültigen Version des ICCPR in der Lage, genügend Unterstützung zusammenzubringen, um ihre Ergänzungen zum Verbot der „Haßrede“ durchzusetzen, so daß dem ICCPR ein besonderes Redeverbot hinzugefügt wurde. Darüber hinaus ist der ICCPR im Gegensatz zu den AEdM ein bindendes Dokument, und seit der Annahme 1966 wurde er bis jetzt von 168 Staaten ratifiziert – das sind über 75 Prozent aller Nationen der Welt.

Die überwiegend westlichen Nationen kämpften gegen ein solches Verbot, und Eleanor Roosevelt aus den Vereinigten Staaten argumentierte, daß es „extrem gefährlich wäre, Regierungen zu ermutigen, daß sie in diesem Bereich Verbote erlassen, da jegliches Kritisieren öffentlicher oder religiöser Autoritäten allzu leicht als Aufstachelung zu Haß bezeichnet und infolgedessen verboten werden könnte“. Der dazu geplante Artikel 20 sei nicht nur unnötig, sondern auch schädlich. Des weiteren wurde befürchtet, daß durch ein solches Verbot „das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit beeinträchtigt“ werden könne, da „eine Regierung sich auf diesen Artikel berufen könnte, um alle Formen der Meinungsäußerung von vornherein zu zensieren und die Meinungen von oppositionellen Gruppierungen und Parteien zu unterdrücken“.

Die Abstimmungen über verschiedene „Haßrede“-Regelungen spiegeln ein „Auf und Ab des Einflusses“ wider, der zwischen der vor allem kommunistischen Unterstützung einer „Haßrede“-Klausel und der vor allem westlichen Unterstützung der Redefreiheit hin und her ging. Über einen Zeitraum von sieben Jahren wurden „Haßrede“-Regelungen dem Entwurf hinzugefügt, gestrichen, wieder hinzugefügt, wieder gestrichen und letztendlich für immer und ewig hinzugefügt. Trotz des Widerstands wurde Artikel 20 (2) in den ICCPR aufgenommen. Er besagt: „Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Haß, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.“

Der Abstimmungsbericht ist tatsächlich interessant. Aus europäischer Perspektive waren die Nationen, welche gegen Artikel 20 (2) stimmten, alles Demokratien: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden und das Vereinigte Königreich Großbritannien. Im Gegensatz dazu waren diejenigen, die zugunsten eines „Haßrede“-Verbots votierten, alles Staaten, die von kommunistischen Regimen regiert wurden, mit Ausnahme Spaniens, das zu dieser Zeit unter der Diktatur Francisco Francos stand: Albanien, Bulgarien, die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik, die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien, Spanien, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und Jugoslawien.

Während die Regime jedes einzelnen dieser Unterstützernationen inzwischen zusammengebrochen sind, sind die internationalen Regelungen, die sie gemeinschaftlich erzwungen haben, aber immer noch in Kraft.






Paul Coleman, Jahrgang 1985, leitet die Menschenrechtsorganisation „ADF International“ in Wien. Als Experte für Menschenrechte und Internationales Recht war er an mehr als zwanzig Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beteiligt und verantwortete zahlreiche Beschwerden vor anderen internationalen Instanzen, wie etwa dem UN-Menschenrechtsausschuß.

Paul Coleman: Zensiert. Wie europäische „Haßrede“-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis-Verlag, Basel 2020, brosch., 288 Seiten, 18 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein adaptierter Auszug aus dem Buch.

Foto: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet am 10. Dezember 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Die auch juristische Bekämpfung von „Haßrede“ ist nicht neu. Kaum bekannt ist jedoch, daß das Verbieten gewisser Redeweisen ein beharrliches sowjetisches Vermächtnis ist.