© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Gezerre um Salzgitter
Vor vierzig Jahren stellte Erich Honecker in Gera Forderungen auf, um die Zweistaatlichkeit formal zu befördern / Die SPD-Regierung in Bonn war gespalten
Jörg Kürschner

Am 14. Oktober 1980 meldete das SED-Zentralorgan Neues Deutschland, daß die 2.500 Parteiaktivisten und Propagandisten des Bezirks Gera die Rede des SED-Generalsekretärs Erich Honecker zu „aktuellen Fragen unserer Innen- und Außenpolitik mit stürmischer Zustimmung“ aufgenommen hätten. Zu Honeckers „grundlegenden Ausführungen“ gehörten das bald als „Geraer Forderungen“ bekannt gewordene Verlangen nach einer fundamentalen Änderung der Politik der Bundesregierung. Der SED-Chef forderte eine Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, die Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Bonn und Ost-Berlin in Botschaften, die Festlegung des Grenzverlaufs auf der Elbe in der Flußmitte sowie die Auflösung der Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter.

Diese Forderungen wurden von der Bundesregierung als unannehmbar zurückgewiesen, die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin verhärteten sich. Ursache dafür war auch die drastische Erhöhung des Mindestumtausches für Besucher aus dem „nichtsozialistischen Ausland“, die am Tag von Honeckers Rede in Kraft getreten war. Westdeutsche DDR-Besucher mußten fortan 25 statt bislang 13 Mark pro Tag bezahlen. Die Empörung war groß. Die Bundesregierung blieb hart. Kanzler Helmut Schmidt (SPD) ließ Honecker im Vorfeld seines DDR-Besuchs Ende 1981 wissen, die Geraer Forderungen seien nicht verhandelbar. 

Der Forderungskatalog war nicht neu, mit der öffentlichkeitswirksamen Präsentation wollte die SED-Führung dessen innenpolitische Bedeutung unterstreichen. Und der zweite deutsche Staat wollte als Ausland behandelt werden. „Niemand soll doch ernsthaft glauben, er könne aktiv die Politik des westlichen Bündnisses vertreten, aus Solidarität mit den USA die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren, als Erfinder und Einpeitscher des Brüsseler Raketenbeschlusses auftreten und gleichzeitig so tun, als brauche man mit der DDR nur über ‘Reiseerleichterungen’ zu sprechen“, begründete Honecker seine Position. 

Egon Bahr befürwortete die Geraer Forderungen

Die DDR-Führung hatte mit ihren Maximalforderungen auf den Zeitfaktor gesetzt. Mit dem Regierungswechsel 1982 von der SPD/FDP- zur CDU/CSU/FDP-Koalition begann in der Bundesrepublik die Diskussion, ob man der DDR nicht entgegenkommen solle. Zumindest teilweise. Gewichtig war die Stimme Egon Bahrs, unter Kanzler Willy Brandt (SPD) Architekt der Ostpolitik, der 1984 die Erfüllung von drei Geraer Forderungen befürwortete: Elbgrenze, Erfassungsstelle, DDR-Staatsbürgerschaft. Daß eine Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft im Widerspruch zum Grundgesetz gestanden hätte, das den DDR-Deutschen die deutsche Staatsbürgerschaft zusicherte, schien den Deutschlandpolitiker in der nunmehrigen Oppositionspartei SPD nicht zu stören. Daß politische DDR-Häftlinge Gefängniswärter warnten, indem sie Fensterscheiben anhauchten, mit der Fingerspitze das Wort „Salz“ auf die beschlagene Scheibe schrieben und darunter ein Gitter malten – geschenkt. 

Auch die Grünen-Spitze zeigte sich offen für die Forderungen des SED-Regimes, folgte ihrem Deutschlandpolitiker Dirk Schneider, der später als Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes enttarnt wurde. Wenn die DDR erst einmal völkerrechtlich anerkannt sei, werde sie sich zu menschlichen Erleichterungen etwa im Reiseverkehr durchringen, wurde damals argumentiert. Die Behörde in Salzgitter war von SPD, Grünen und auch der FDP längst zur Disposition gestellt worden. Als erster von sechs SPD-Ministerpräsidenten kappte der Saarländer Oskar Lafontaine (SPD) Anfang 1988 die Zahlungen für die Mini-Behörde. Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin folgten. Hamburgs Kultursenator Ingo von Münch (FDP) sprach von einem „Relikt des Kalten Krieges“. Ottfried Hennig (CDU), Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, schlug vor, die Erfassungsstelle aufzulösen, vorausgesetzt die DDR hebe den Schießbefehl auf. Im Kanzleramt gab es Überlegungen, die staatsanwaltschaftlichen Befugnisse der Salzgitter-Stelle zu beschneiden. 

Im November 1993, vier Jahre nach dem Mauerfall, räumte Ex-SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel im Bundestag ein, die Forderung nach Abschaffung der Behörde sei ein Fehler gewesen. Eingerichtet worden war diese kurz nach dem Mauerbau 1961 auf Initiative des West-Berliner Bürgermeisters Willy Brandt. „Wegen der nahezu völligen Identität der jetzt vom SED-Regime in der Zone und in Ostberlin angewandten Methoden mit denen des Nationalsozialismus dürfte die Ludwigsburger Zentrale Stelle für die nunmehr erforderlichen Ermittlungen besonders gut geeignet sein.“ Den Zuschlag erhielt Salzgitter, etwa zwanzig Kilometer von der Zonengrenze entfernt.