© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Mauscheln statt schrumpfen
Wahlrecht: Mit diesem Reförmchen wird der aufgeblähte Bundestag kaum kleiner
Jörg Kürschner

Nach nur halbstündiger lebhafter Debatte hat der Bundestag eine Reform des Wahlrechts beschlossen, die für eine Verkleinerung des Parlaments nach der nächsten Wahl im Herbst 2021 sorgen soll (JF 32 und 37/20). Gegen den heftigen Widerstand der Opposition stellte die Koalition sicher, daß ihr auch in den eigenen Reihen umstrittener Gesetzentwurf verabschiedet wurde, dem zufolge drei Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden sollen. Außerdem sollen weitere Überhangmandate in begrenztem Umgang mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden. Überhangmandate entstehen, wenn es mehr Direktkandidaten einer Partei in den Bundestag schaffen, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Um das Zweitstimmenergebnis durch die Überhangmandate nicht zu verzerren, bekommen die anderen Parteien dafür Ausgleichsmandate. So hat sich der Bundestag im Laufe der Jahre ständig vergrößert. Derzeit gehören ihm 709 Abgeordnete an, die Regelgröße liegt bei 598.

Die von CDU/CSU und SPD erwartete Verkleinerung des Parlaments wurde von der Opposition mit selten zu hörender rhetorischer Schärfe als äußerst fragwürdig bezeichnet. So unterstellte etwa der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle der Koalition mit Blick auf bereits erfolgte Nominierungen der Kandidaten eine bewußte Verschleppung der Reform, um die Reduzierung der Wahlkreise aus Zeitnot auf 2025 zu verschieben. „Das ist schäbig.“ Wie Kuhle äußerten auch Vertreter der übrigen Oppositionsfraktionen erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfs. Der Linken-Parlamentarier Friedrich Straetmanns berief sich auf die der Plenardebatte vorausgegangene Anhörung von Sachverständigen, die dem Koalitionsvorhaben mehrheitlich „massive Defizite“ attestiert hatten. Unausgeglichene Überhangmandate seien grundgesetzwidrig hieß es dort, und nahezu einheitlich wurde in Abrede gestellt, daß der Entwurf ein weiteres Anwachsen der Mandatszahl verhindere. Nach Ansicht der Grünen ist die Koalition „kläglich gescheitert“. Die Zahl der Abgeordneten werde weiter steigen.

So argumentierten Koalitionsvertreter eher defensiv, auch weil nach Berechnungen des renommierten Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags nur eine eher geringe Reduzierung der Parlamentssitze, nämlich 27, zu erwarten sei. „Das Gesetz gewinnt keinen Schönheitspreis“, mußte der SPD-Abgeordnete Mahmut Özdemir zerknirscht einräumen. 

„Zur notwendigen Reform kaum geeignet“

Der Unionsabgeordnete Michael Frieser bezeichnete das Direktmandat, das den direkten Kontakt zu den Bürgern garantiere, als „Teil der repräsentativen Demokratie“. Die Koalition will die Zahl der derzeit 299 Wahlkreise erst bei der übernächsten Wahl 2025 verringern. „Reiner CSU-Egoismus“, hallte es Frieser entgegen, denn der Union wird Besitzstandsdenken unterstellt. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 gewann die bayerische Regionalpartei alle 46 Direktmandate in den Wahlkreisen, bei der CDU sieht es nicht viel anders aus. Der (abgelehnte) Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen sah dagegen vor, die Zahl der Wahlkreise (und damit auch die Zahl der Direktmandate) um 49 zu reduzieren. Gegenargument: Die Parlamentarier könnten bei derart großen Flächen-Wahlkreisen kaum noch überall präsent sein, der Kontakt zum Bürger gehe verloren. Gleichzeitig wollten die drei Fraktionen die reguläre Sitzzahl von derzeit 598 auf 630 erhöhen.

Der Rechtswissenschaftler Ulrich Vosgerau, der für die AfD an der Anhörung teilgenommen hatte, wandte sich energisch gegen das „Dogma“, eine Verkleinerung des Bundestages sei nur möglich durch eine Abschaffung zahlreicher Wahlkreise. Der Gesetzentwurf der AfD, den der Abgeordnete Albrecht Glaser in der Debatte erläutert hatte, war wie üblich von den etablierten Fraktionen ignoriert worden: „Nach ihm gibt es keine Überhang- und keine Ausgleichsmandate mehr, alle Wahlkreise bleiben erhalten, und der Bundestag hat, wie im Gesetz schon heute festgelegt, 598 Mandate“. Im Ergebnis will die AfD Wahlkreis-Gewinnern mit den schwächsten Ergebnissen das Mandat verwehren, falls ihre Partei im jeweiligen Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewonnen hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zustehen. Vosgerau machte im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT darauf aufmerksam, daß sich die Wertigkeit eines Direktmandats im Laufe der Jahrzehnte verändert habe. Die Zeiten, in denen rund 40 Prozent der Erststimmen erforderlich waren, sind lange vorbei. „Derzeit gehören dem Bundestag 27 direkt gewählte Abgeordnete an, die in ihren Wahlkreisen jeweils weniger als 30 Prozent Erststimmenanteil erreicht haben; zwei davon haben weniger als 25 Prozent Erststimmenanteil erreicht. Es erscheint aber nicht nur nicht verfassungsrechtlich geboten, sondern eher als verfassungsrechtlich zweifelhaft, einen Kandidaten, gegen den mehr als 70 Prozent in seinem Wahlkreis gestimmt haben, zwingend zum Inhaber des Direktmandats zu erklären.“. Dies würde man etwa bei Bürgermeistern auch nicht machen, hier müßte zumindest eine Stichwahl stattfinden.

Der Koalitionsentwurf wurde mit 362 Ja- und 281 Nein-Stimmen bei acht Enthaltungen angenommen, darunter die Stimme von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. In seiner persönlichen Erklärung heißt es: „Die vorgesehenen Maßnahmen sind zu der dringend notwendigen Reform kaum geeignet und reichen nicht aus.“ Der CDU-Politiker hatte jahrelang mit den Vorsitzenden der sechs Fraktionen um eine Lösung gerungen.

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