© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Wider die notorische Instabilität
Unruheherd Zentralasien: Chaos nach kirgisischer Parlamentswahl – Moskau und Peking in Alarmstellung
Jörg Sobolewski

Die zentralasiatische Republik Kirgisistan kommt auch über eine Woche nach der annullierten Parlamentswahl nicht zur Ruhe. Nach der Verkündung des offiziellen Ergebnisses am 4. Oktober und der anschließenden Annullierung der Wahl am 6. Oktober durch die oberste Wahlbehörde kam es in den urbanen Zentren des Landes zu Unruhen und Ausschreitungen. Demonstranten aus unterschiedlichen politischen Lagern stürmten öffentliche Gebäude und Plätze. Darunter auch den Amtssitz des Präsidenten, Sooronbai Dscheenbekow, sowie das Parlamentsgebäude des Landes. 

Es gibt kaum Politiker, die nicht kriminell sind

Die Proteste richteten sich anfangs gegen ein Wahlergebnis, von dem mehrheitlich regierungstreue Parteien profitiert hätten, wuchsen sich jedoch nach und nach zu einem gewalttätigen Konflikt über politische Machtverhältnisse aus. Es kam nach offiziellen Angaben zu Todesopfern und über eintausend Verletzten. Auch Schüsse sollen gefallen sein. 

Nach dem Rücktritt von Premier Kubatbek Boronow und seiner Regierung riefen Teile des Parlaments im Rahmen einer improvisierten Zusammenkunft den verurteilten Entführer und Politiker der nationalistischen Mekenchil-Partei, Sadyr Schaparow, zum neuen Premierminister aus. Schaparow hatte in der Vergangenheit versucht, den Gouverneur einer Provinz im Süden der Republik zu entführen. Die Anklage warf ihm Verbindungen zum organisierten Verbrechen des Landes vor. Schaparow wurde wenige Stunden vor seiner Wahl zum Premier am 7. Oktober aus dem Gefängnis befreit. Zusammen mit weiteren ehemaligen Politikern des Landes. Die Wahl Schaparows wurde am 10. Oktober von einer Mehrheit der 120 Abgeordneten des Parlaments formell bestätigt. 

Das flächenmäßig große, aber dünn besiedelte Land ist notorisch instabil, handelt es sich doch bereits um den dritten Umsturz in den vergangenen fünfzehn Jahren. Die demokratische politische Struktur, ethnische Konflikte und tief in der Gesellschaft verwurzelte organisierte Kriminalität machen Kirgisistan zu einem der Unruheherde in der Region. 

Der russischen Hegemonialmacht in der Region kam in der Vergangenheit häufig die Rolle eines Schiedsrichters zu, die Russische Föderation verfügt in Kirgisistan über mehrere Militärstützpunkte und zivile Einrichtungen und hat bereits in der Vergangenheit auch militärisch auf kirgisischen Wunsch hin stabilisierend eingegriffen. 

Die Lage des Landes an der historischen Seidenstraße, einer der wichtigsten internationalen Schmuggelrouten der Gegenwart verleiht dem Geschehen zusätzliche Brisanz. Nach Aussagen Moskauer Analysten ist es in Kirgisistan „fast unmöglich, einen Politiker zu finden, der nicht auf die eine oder andere Art in kriminelle Machenschaften verwickelt ist“, wie die New York Times zitiert. 

In der Hauptstadt Bischkek hat sich die Lage nach Augenzeugenberichten zumindest etwas beruhigt. Nach Aussage des stellvertretenden Bürgermeisters in einem russischsprachigen Medium des Landes unterstützten über zehntausend Freiwillige die Sicherheitskräfte des Landes beim Versuch, Plünderungen und Gewalt zu unterbinden. 

Die Unruhe in der ehemaligen Sowjetrepublik kommt für Rußland ungelegen. Mit ungelösten Konflikten im Westkaukasus, dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan und weiteren Konfliktherden in den benachbarten Staaten Usbekistan und Tadschikistan reiht sich der politische Umsturz in Kirgisistan ein in ein unruhiges 2020 für Zentralasien. 

Auch die neue Weltmacht China schaut mit Sorge auf die Lage an seiner Westgrenze. Kirgisistan grenzt an die chinesische Unruheprovinz Xinjiang, in der die Volksrepublik seit Jahren eine Politik der Unterdrückung gegen die uigurische Minderheit verfolgt.