© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Warten auf den gesicherten Frieden
Libyen: Der finanzielle Kollaps des einst reichen Landes zwingt die Kontrahenten an den Verhandlungstisch
Marc Zoellner

Seit Sonntag fließt das Erdöl wieder: Mit Erleichterung konnte die National Oil Corporation, der staatliche libysche Ölkonzern, die erneute Inbetriebnahme des Ölfelds von El Sharara verkünden. Seit dem 18. Januar dieses Jahres ruhte die dortige Produktion; offiziell aus „Gründen höherer Gewalt“. 

Der inoffizielle Grund hingegen waren bewaffnete Stammesmilizen, die seit Monaten regelmäßig in das abgeschiedene Betriebsgelände im äußersten Südwesten des Saharastaates vorstießen, um sich Schießereien mit den Sicherheitskräften zu liefern.

Deviseneinnahmen sind komplett weggebrochen

El Sharara gilt als eine der devisenstärksten Einnahmequellen des erdölreichen Libyen. Etwa ein Viertel der rund 1,2 Millionen Barrel pro Tag, die Libyen noch vergangenes Jahr zu fördern in der Lage war, stammte allein aus diesem Ölfeld. 

Mit Beginn der Offensive des Tobruker Generals Chalifa Haftar, der im Bündnis mit dem ostlibyschen „Abgeordnetenrat“ gegen die westlibysche „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA) zu Felde zog, gelang es Haftars „Libyscher Nationaler Armee“ (LNA) zwar, die Ölförderstätte von den Transitrouten nach Tripolis und somit in die Exporthäfen am Mittelmeer abzuschneiden. 

Eine Eroberung des Ölfeldes schien jedoch undurchführbar. Die Überfälle der Stammesmilizen gerieten zum Druckmittel Haftars, die Förderung einzustellen. Der Besitz dieser wertvollen Förderstelle wurde hingegen zum Faustpfand des GNA-Ministerpräsidenten Fayiz as-Sarradsch für eine weiterhin starke diplomatische Verhandlungsgrundlage trotz dessen noch im Frühjahr drohender militärischer Niederlage.

Für die libysche Wirtschaft gleicht die Wiedereröffnung El Shararas einem Segen: Ermöglicht wurde dieser Moment allein durch umfangreiche Zugeständnisse Haftars an die GNA. Immerhin kämpfen sowohl Haftar als auch as-Sarradsch mittlerweile beide um ihr politisches Überleben. 

Nach sechseinhalb Jahren der militärischen Auseinandersetzung liegen die Binnenwirtschaften beider Bürgerkriegsparteien brach; die Deviseneinnahmen sowohl Tobruks als auch Tripolis’ sind komplett versiegt. Noch Anfang Oktober hatte Al-Saddiq Al-Kabir, der Chef der in Tripolis ansässigen Libyschen Zentralbank (CBL) vor einem finanziellen Kollaps des einstmals reichsten Landes des afrikanischen Kontinents gewarnt, sollte die Erdölförderung nicht wieder vollständig aufgenommen werden.

Haftars Sanktionen glichen einer „Kugel in den Kopf“ der libyschen Wirtschaft, mahnte Al-Kabir in einer Rede vor dem Tripolitanischen Parlament. Allein die Gewinne aus den Ölverkäufen seien von 53,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012, umgerechnet rund 45 Milliarden Euro, auf fast null US-Dollar in diesem Jahr gesunken; die Staatsverschuldung hingegen im gleichen Zeitraum von null auf 270 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen.

 Um den Zusammenbruch Ostlibyens zu verhindern sowie seine eigenen Milizen und Verwaltungsangestellten zu finanzieren, ließ Haftar Banknoten im Wert von 15 Milliarden Dinar, umgerechnet cirka 9,3 Milliarden Euro, in Rußland drucken und nach Tobruk einfliegen.

Drittstaaten haben Ölquellen im Visier

Aus strategischen Gründen hatte as-Sarradsch für Ende dieses Monats seinen Rücktritt angekündigt, um weitere Verhandlungsrunden mit seinen ostlibyschen Rivalen anzustoßen. Diese waren  von Erfolg gekrönt: Im August vereinbarten die Parteien einen Waffenstillstand speziell rund um die umkämpfte mittellibysche Hafenstadt Sirte. 

In Ägypten, einem Verbündeten Haftars, beraten Tobruk und Tripolis derzeit über die Modalitäten zu einem Frieden. Anfang September konnten sich die Regierungen während eines Treffens in der Schweiz auf die Vorbereitungen allgemeiner Wahlen „spätestens in 18 Monaten“ verständigen. Zudem beraten  seit September Vertreter des Abgeordnetenrats sowie der GNA im marokkanischen Bouznika über die Neubesetzung wichtiger Stellen im Staat durch neutrale Führungskräfte. Zur Ausschreibung stehen unter anderem der Chefposten der Zentralbank, der Vorsitzende der Wahlkommission sowie der Präsident des Verfassungsgerichts.

Haftar und as-Sarradsch wären gern weiter Teil dieser neuen libyschen Ordnung, bestenfalls in ihren angestammten Positionen als militärischer Oberbefehlshaber und Staatsoberhaupt. Doch ihre Machtpositionen sind instabiler geworden: Seit as-Sarradschs Rücktrittserklärung wagen bewaffnete Banden in Tripolis die offene Konfrontation mit der GNA. Seit Haftars militärischer Niederlage gegen die GNA und deren türkische Verbündete sucht auch der Abgeordnetenrat nach Alternativen, um ihren eigenen Vorsitzenden Aguila Issa anstelle des Generals in die Verantwortung zu manövrieren. 

Worauf sich beide Protagonisten allein noch verlassen können, sind ihre ausländischen Verbündeten, die trotz des seit 2011 bestehenden Waffenembargos weiterhin fleißig Söldner und Kriegsgerät ins Land schmuggeln: Das mit Haftar verbündete Rußland beschäftigt gleich Hunderte Milizionäre der Gruppe Wagner und verfrachtet Waffen samt Munition auf Direktflügen sowie mutmaßlich über Scheinfirmen in Kasachstan. 

Die Vereinigten Arabischen Emirate stehen in Verdacht, Haftar über ägyptische Militärbasen an der libyschen Grenze zu beliefern. Und die Türkei, der treueste Verbündete der GNA, der für as-Sarradsch unzählige Söldner aus Syrien rekrutiert, baut ganz offen bereits an einer für Großflugzeuge geeigneten Landebahn im Nordwesten Libyens.

 Sämtlichen dieser Drittstaaten geht es dabei nur sekundär um den Machterhalt ihrer beiden Protagonisten. Was sie tatsächlich lockt, ist ein großes Stück vom Kuchen der Förderfelder Libyens – wie jenes in El Sharara, dessen Devisenverteilung in den kommenden internationalen Verhandlungsrunden eine gewichtige Rolle spielen dürfte.