© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Kollaps mitten in der Pandemie
Arzneimittelversorgung: Tausende Apotheker bundesweit bangen um ihre Existenz / Abrechnungszentrum pleite
Paul Leonhard

Als die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)im September Ralf Bauer zum Abrechnungszentrum AvP in Düsseldorf schickt, damit dieser die Geschäfte übernehme, ist es schon zu spät. Der Sonderbeauftragte beantragt bereits am nächsten Tag ein Insolvenzverfahren. Am 16. September eröffnet das Amtsgericht Düsseldorf über das Vermögen der AvP Deutschland GmbH das vorläufige Insolvenzverfahren (Aktenzeichen 502 IN 96/20). Damit folgt nach Wirecard der zweite große Wirtschaftsskandal in diesem Jahr.

Aber die Pleite des Zahlungsdienstleisters und medial gehypten Dax-Stars betrifft nur Anleger, Banken, Wirtschaftsprüfer und das Image des Börsenplatzes Deutschland (JF 20/20). Die AvP-Insolvenz erschüttert das deutsche Gesundheitssystem mitten in der Corona-Pandemie. Die 1947 gegründete Firma mit Standorten in Düsseldorf, Hünxe, Heinersdorf bei Berlin und Weißenfels war der größte private Rezeptabrechner in Deutschland. Bundesweit bangen Tausende Apotheker um ausstehende Zahlungen und fürchten um ihre Existenz.

Ist das Geld für die Kassenabrechnung weg?

Jede sechste Apotheker war Kunde der AvP. Tausende sind so unverschuldet in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Allein für Sachsen beziffert Thomas Dittrich, Vorsitzender des Sächsischen Apothekerverbandes, die offenen Rechnungen auf bis zu 60 Millionen Euro. In Berlin sind etwa 80 Apotheken, in Brandenburg 100 von der Pleite bedroht, bundesweit mehr als 3.000. Der Apothekerverband Nordrhein befürchtet, daß von den knapp 4.000 Apotheken in der Region fünf Prozent schließen müssen. In Sachsen-Anhalt ist sogar jede fünfte Apotheke in Zahlungsnot geraten. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) hat mit den Ersatzkassen Barmer, DAK, KKH, HKK und HEK zumindest eine Übergangsvereinbarung ausgehandelt.

Die AvP wickelte im Auftrag von Apotheken Zahlungsgeschäfte ab. Sie rechnet also jene Beträge bei den Krankenkassen ab, für die die Apotheker beim Bezahlen der Medikamente in Vorleistung gegangen sind, denn viele Medikamente werden bezuschußt. AvP fungierte als „Factoring“-Institut, das einen Kredit laufen hat, mit denen es „schnelles Geld“ für die Kassenabrechnung von verschiedenen Banken erhielt.

Zum Geschäftsmodell gehörte auch, daß die Apotheken ihre Forderungen gegenüber den Kassen an die AvP abtreten mußten. Treuhandkonten gab es keine. Allerdings hatte das Unternehmen stets damit geworben, seine Bonität durch die Ratingagentur Creditreform regelmäßig bewerten zu lassen. Das Abrechnungsvolumen belief sich nach Angaben von AvP auf jährlich rund sieben Milliarden Euro. Als erste Apotheken über ausbleibende Zahlungen klagen, verweist AvP auf IT-Probleme wegen eines Dienstleisterwechsels. Laut Berichten des Handelsblatts hat im Sommer ein Bankenkonsortium unter Führung der Unicredit der AvP eine Kreditlinie von knapp 250 Millionen Euro gekündigt, nachdem das von ihnen mit einer Prüfung beauftragte Beratungsunternehmen Andersch auf Unstimmigkeiten hingewiesen hat.

Finanzexperte Bauer ist dann am 11. September schon der zweite Beauftragte, den die BaFin schickt, wenngleich mit größeren Vollmachten ausgestattet als sein Vorgänger. Als eingesetzter Geschäftsführer hat er gemeinsam mit Insolvenzverwalter Jan-Philipp Hoos das jahrelange AvP-Mißmanagement offengelegt, welches letztlich zur Zahlungsunfähigkeit geführt hat. Dazu zählen signifikant niedrigere Gebühren und unverhältnismäßige Ausgaben und Entnahmen. Offen ist derzeit, wie groß die Insolvenzmasse ist, einige Apothekerkammern schätzen die eingefrorenen Summen auf 200 bis 300 Millionen und die ausstehenden Zahlungen auf 400 Millionen Euro.

Fest steht dagegen, daß sich die Prüfung der Ansprüche geschädigter Apotheken jahrelang hinziehen kann, was für zahlreiche Apotheker, die über keine finanziellen Reserven verfügen, das wirtschaftliche Aus bedeuten könnte. Erste Krankenkassen haben daher Stundungen angekündigt. Auch die Deutsche Apotheker- und Ärztebank will helfen. Die Staatsbank KfW hat Schnellkredite mit günstigen Zinskonditionen versprochen. Beides würde aber betroffenen Apotheken langfristig nicht helfen, weil sie die Liquiditätsengpässe nicht beheben. Die Apotheker müssen nun praktisch mit ihrem Privatvermögen für eine Pleitefirma haften.

Erzwungene Komplikationen im Gesundheitssystem

Klaus Michels, Chef des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe, fordert daher politische Lösungen. Die Verbände verweisen darauf, daß die vom Gesetzgeber und den Kassen vorgebenen Abrechnungsprozesse derart kompliziert seien, daß größere Rechenzentren unvermeidlich sind. Die Apotheker „müssen für technische Finessen zahlen, die dem staatlich geregelten System an anderer Stelle Einsparungen ermöglichen“, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben, moniert die Deutsche Apotheker Zeitung in einem Kommentar: „Wenn die Politik den Beteiligten des streng geregelten Gesundheitssystems eine bestimmte Vorgehensweise aufzwingt, sollte sie für die Schäden bei den unverschuldet Betroffenen geradestehen, wenn dieses System versagt.“

Überdies seien die Apotheken bei hochpreisigen Arzneimitteln laut Sozialgesetzbuch gezwungen, den Krankenkassen lange Zahlungsfristen zu gewähren, klagt Sachsen-Anhalts Apothekerkammerpräsident Jens-Andreas Münch. In einem offenen Brief macht die Gewerkschaft Adexa unter der Überschrift „Arbeitsplätze in den Apotheken sichern!“ auf die kritische Situation vieler Apotheken aufmerksam. Schon seit dem EuGH-Urteil vom Herbst 2016 seien sie einem „unfairen Wettbewerb“ mit ausländischen Versandapotheken ausgesetzt, so Adexa-Vorstand Andreas May.

Die Apotheken vor Ort seien aber als „systemrelevant anerkannt und für ihre Fachkompetenz und Flexibilität bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln gelobt worden“. Sie hätten „vor und in der Pandemie hervorragende, aber schlecht vergütete Arbeit“ geleistet und stünden jetzt in vielen Fällen vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen oder gar dem Ruin. Das Netz der Vor-Ort-Apotheken dürfe nicht noch dünner werden.

Im Bundesgesundheitsministerium zeigt man sich schmallippig. So heißt es in der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Sabine Weiss auf eine Anfrage der Linken: „Der Bundesregierung ist die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln durch die Apotheken ein sehr wichtiges Anliegen, sie wird diese auch weiterhin genau beobachten.“ Die weitere Entwicklung des Insolvenzverfahrens bleibe abzuwarten. Laut Angaben des Zahnarztes und FDP-Bundestagsabgeordneten Wieland Schinnenburg wisse die Bafin spätestens seit dem 5. September von der wirtschaftlichen Schieflage der AvP. Dennoch sollen aus der Insolvenzmasse noch Finanzmittel im dreistelligen Millionenbereich abgeflossen sein. Das riecht irgendwie nach Wirecard.

Deutscher Apothekerverband (DAV): www.abda.de

Apotheker-Gewerkschaft: www.adexa-online.de