© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Nicht eingelöste Versprechen
Aserbaidschan und Bergkarabach: Viele Staatschefs wollten im Konflikt mit Armenien siegen – doch noch keinem gelang es
Curd-Torsten Weick

Das Gebiet des heutigen Aserbaidschan lag seit Jahrhunderten im Spannungsfeld zwischen drei Mächten: dem Osmanischen Reich, Rußland und Persien. Dieser Teil des Transkaukasus, durch Turkstämme im 11. Jahrhundert turkisiert, seit dem 8. Jahrhundert durch die Araber islamisiert, erlebte ständig wechselnde Herrschaftsverhältnisse. Mit dem Vordringen der russischen Herrschaft in dieser Region begann für Aserbaidschan Anfang des 19. Jahrhunderts ein neues Kapitel. Im Jahr 1828 wurde das Land aufgeteilt in einen russischen Nord- und einen persischen Südteil.

Ein weiteres Kapitel kam nach der russischen Oktoberrevolution hinzu. 1917 erhoben sowohl Armenier als auch Aserbaidschaner Anspruch auf das hauptsächlich von Armeniern bewohnte Gebiet Bergkarabach (Nagorny Karabach). Doch erst durch den russisch-türkischen Friedensvertrag (16. März 1921) wurden territoriale Fakten geschaffen. Der Vertrag sprach der Türkei schon aus russischer Rücksicht auf die freundschaftlichen Beziehungen zu Mustafa Kemal ein Mitspracherecht in den Statusfragen der Autonomen Region Nachitschewan zu. Nachitschewan wurde dem Gebiet Aserbaidschans zugeschlagen. 

Nachitschewan für Baku, Bergkarabach zu Armenien

Die Karabachfrage wurde dann am 5. Juli 1921 im Plenum des Kaukasusbüros der Bolschewiki entschieden. Per Dekret vom 7. Juli 1923 wurde Nagorny Karabach zum Autonomen Gebiet innerhalb Aserbaidschans. Die armenische Seite fühlte sich durch diesen Beschluß betrogen und bekräftigte bis zu den Ereignissen der Jahre 1988 ihren Anspruch auf dieses Gebiet.

Hervorgerufen durch den langsamen Verfall der Sowjetunion, bildeten sich in Aserbaidschan seit 1988 eine Reihe kleiner Zirkel, in denen sich Wissenschaftler, Studenten, Künstler, Journalisten mit der kritischen Aufarbeitung der Geschichte Aserbaidschans befaßten. In erster Linie ging es ihnen dabei um die Suche nach einer neuen, auf historischen Wurzeln beruhenden Identitätsfindung für die gesamte Gesellschaft. Doch die Komplexität der Debatten auf der einen und die repressive Ausgrenzungspolitik der KP-Regierung auf der anderen Seite ließen verpufften. „Erst mit dem Ausbruch des Karabach-Konfliktes wurde der Volksnerv getroffen, erfolgte eine Politisierung breitester Massen“, so Eva-Maria Auch in einem Bericht des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien.

Der Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach kam nicht von ungefähr. Letztmalig im August 1987 (vorher: 1962/1965/1967) protestierten 75.000 in Karabach lebende Armenier in einem offenen Brief an den sowjetischen Parteichef Gorbatschow gegen die „Islamisierung und die Turkisierung“ der armenischen Gebiete in Nagorny Karabach. Eine Antwort blieb aus. Parallel zu dem Entschluß des Karabacher Gebietssowjets, einer Autonomie der Enklave zuzustimmen, findet sich in Baku eine Initiativgruppe zur Schaffung einer Volksfront, der Klub der Wissenschaftler, zusammen. Dies stieß beim ZK der KPdSU auf wenig Gegenliebe (April 1989), konnte die Popularität der Volksfront jedoch nicht hemmen, im Gegenteil. Häufige Zusammentreffen mit den baltischen Bewegungen förderten die gesellschaftliche Akzeptanz und brachten die notwendige Unterstützung. Erste große Kundgebungen und Streiks waren die Folge. Die Gründung der Nationalen Front Aserbaidschan (NFA) im Sommer 1988 bot das Podium zur Verbreitung des politischen Programms: Einsatz für grundsätzliche Umgestaltung und Demokratisierung aller Lebensbereiche, ökonomischer Pluralismus, Kampf gegen die Mafia/Schattenwirtschaft, Herstellung sozialer Gerechtigkeit, Wiederherstellung religiöser Einrichtungen, Unabhängigkeit. Im Lauf der Zeit konnte sich die aserbaidschanische KP-Führung dem Druck der Straße nicht mehr entziehen, es kam zur offiziellen Zulassung der NFA, die sich zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor im Staat entwickelte. 

Den Ausschlag zur Verhärtung der Fronten bildeten die Geschehnisse im Januar 1990. Hauptsächlich hervorgerufen durch den Unmut über ethnische Säuberungen im Gebiet um Nagorny Karabach, rissen Tausende Aseris einen 50 Kilometer langen Grenzstreifen der aserbaidschanisch-iranischen Grenze nieder und feierten die Vereinigung mit ihren schiitischen iranischen Landsleuten (cirka 15 Millionen Aseris leben im Iran). Parallel dazu veranstaltete die Volksfront Massenkundgebungen in Baku. Forderungen nach Rücktritt der Regierung unter Ayaz Mutalibow wurden erhoben, es kam zur Ausrufung eines Generalstreiks. Die Macht der Volksfront steigerte sich von Woche zu Woche. Wichtige Städte wie Lenkoran standen bereits unter ihrer Kontrolle.

Schon die Volksfront nabelte sich von Moskau ab 

Mit der Entsendung von 11.000 Mann der Sondertruppen des Innenministeriums (Omon), der Ausrufung des Ausnahmezustands sowie der Verhaftung der maßgeblichen NFA-Führer konnte Moskau die Macht in Baku bis September 1991 halten. Doch durch die Vielzahl militärischer Rückschläge und Niederlagen im Karabach-Konflikt sowie die beträchtlichen Gebietszuwächse der Armenier ließen Vertreter der Volksfront ins politische Rampenlicht treten: „Ein Präsident, der unfähig ist, sein Volk, dessen Rechte und Leben zu verteidigen, sollte mitsamt seiner Regierung zurücktreten“, zitierte die FAZ Oppositionskräfte. 

Letztendlich mußte sich Mutalibow dem Druck der Opposition beugen. Nach der 24stündigen Belagerung des Parlaments durch mehrere tausend Demonstranten trat er im März 1992 zurück. Überdies beschloß das Parlament die Ansetzung der Neuwahl des Präsidenten für Juni 1992. Die Regierungsgeschäfte übernahm ein 50köpfiger Nationalrat, in dem die Opposition paritätisch (50 Prozent) vertreten war. Die Arbeit dieses Gremiums wurde jedoch am 14. Mai 1992 abrupt unterbrochen. Eine von bewaffneten Anhängern Mutalibows einberufene Sondersitzung des Parlaments setzte Mutalibow in einer „staatsstreichartigen Aktion“ (NZZ) wieder zum Präsidenten ein und hob gleichzeitig die Beschlüsse vom März 1992 auf. Trotz des sofort verfügten Ausnahmezustandes kam es am 15. Mai zu Massenkundgebungen mit einer halben Million Teilnehmern. Unter Rufen nach Demokratie, Freiheit und Unabhängigkeit stürmten die Demonstranten das Parlament und das Fernsehzentrum. Mutalibow tauchte unter. 

Diesen politischen Triumph nutzte die NFA, um ihre politische Macht auszubauen. Der wiedereingesetzte Nationalrat bestätigte den Termin der Präsidentenwahlen und beschloß die Bildung einer Koalitionsregierung, in der die Volksfront den Ton angab. Bereits vor der Wahl im Juni 1992 stand der Sieger fest: die Volksfront mit ihrem Vorsitzenden, dem Orientalisten Ebulfez Elçibey. Das Votum bestätigte dies. Bei einer Wahlbeteiligung von 74 Prozent erhielt die NFA im ersten Wahlgang mehr als 65 Prozent der Stimmen. Elcibey, der wegen „antisowjetischer“ Propaganda inhaftiert war, sah in der Errichtung eines unabhängigen, laizistischen Staates nach türkischem Vorbild die Hauptaufgabe seiner Arbeit.

 Wichtiger Eckpfeiler seiner Politik war die Durchsetzung des westlichen Demokratieverständnisses in Aserbaidschan. Einhergehend mit dem Kampf gegen den Apparat der Kommunisten, gegen islamischen Fundamentalismus und gegen den florierenden Schwarzmarkt. Sein Hauptaugenmerk lag jedoch auf militärischem Gebiet, der Lösung des Karabach-Problems. Unter seiner Führung schloß Aserbaidschan ein Freundschaftsabkommen mit der Türkei. Ebenso ersetzte Elçibey das kyrillische durch das lateinische Alphabet und setzte den Abzug der russischen Truppen aus Aserbaidschan durch. Zudem signalisierte er den Armeniern in Karabach Autonomierechte. Eine Abtrennung Nagorny Karabachs von Aserbaidschan komme jedoch nicht in Frage, so Elçibey. Die knapp einjährige Herrschaft der Volksfront erfüllte diese Hoffnungen nicht. Vergeltungs- und Rückeroberungsangriffe wurden von armenischer Seite zurückgeschlagen. Die armenischen Kräfte konnten im Gegenzug große Gebietsgewinne erzielen. 

Mit dem Fall der strategisch wichtigen Stadt Kelbadschar (Landkorridor zwischen Armenien und Karabach) bekam der Konflikt eine neue Dimension. Armenische Milizionäre kontrollierten Anfang April 1993 nahezu ein Zehntel des aserbaidschanischen Territoriums, die Zahl der Aseri-Todesopfer (2.500) und der Aseri-Flüchlinge (300.000) nahm ein beängstigendes Ausmaß an. Dieser militärischen Erniedrigung hatte die Volksfrontregierung nichts entgegenzusetzen. Die Einführung des Türkischen als Amtssprache auf innenpolitischem Terrain konnte nicht von den Niederlagen und politischer Ohnmacht ablenken.

Putschgerüchte machten in Baku die Runde. Nach einer Militärrevolte – angeführt von dem zuvor degradierten Frontkommandanten Surat Husejnow – nutzte der ehemalige KP-Chef und Präsident der Enklave Nachitschewan, Gajdar Alijev seine Chance. Elçibey floh. Die Vollmachten des Staatschefs übernahm daraufhin Alijev. Ende Juni kürte das Parlament Husseinow mit 36 zu einer Stimme zum Ministerpräsidenten – ausgestattet mit ungewöhnlicher Machtfülle. Der „Nationalheld“ übernahm zugleich Innen- und Verteidigungsministerium.

 Doch auch die neue Führungsclique mußte schnell einsehen, daß die bürgerkriegsähnlichen Zustände die militärische Schlagkraft Aserbaidschans merklich schwächten. Offensiven armenischer Verbände führten zu weiteren Landverlusten. Aserbaidschanische Ersuchen nach einer Waffenruhe wurden von der Karabach-Führung ebenso ignoriert wie die UN-Resolution 822, die den Rückzug der Armenier aus Aserbaidschan forderte.

Trauten viele Aseris dem mit allen Wassern gewaschenen Alt-Kommunisten zu, den Krieg mit Armenien zu beenden und die Armut und Anarchie im Lande zu bekämpfen, wurden sie doch bitter enttäuscht. Außenpolitisch versuchte der Potentat die schwierige Balance zwischen dem Iran, den USA, Rußland und der Türkei beizubehalten.  Dennoch tendierte Alijev dazu, den Pegel weiter Richtung Ankara ausschlagen zu lassen. 

Ähnlich vollführt es sein Sohn und Nachfolger Ilham. Er preist die militärische  Unterstützung seines „Bruders“ Recep Tayyip Erdogan, kritisiert Frankreich aufgrund dessen Parteinahme für Armenien und sieht lediglich Moskau und Ankara als Vermittler in dem Konflikt um Bergkarabach.