© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Nirgends ein ausgeprägtes Gefühl für das „Vaterland Europa“
Gefestigte nationale Identitäten
(wm)

Der teils revolutionäre, teils reformerische Ordnungswandel ersetzte zwischen 1789 und 1871 das Ancien régime West- und Mitteleuropas durch ein System geschlossener Nationalstaaten. Für den über die Spannung zwischen europäischer und nationaler Identität reflektierenden Historiker Peter Brandt ist dieses neue Staatensystem „eine der eigentümlichsten, prägendsten Hervorbringungen Europas“ (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7-8/2020). Das sei kein Konglomerat bloßer „Konstruktionen“, wie es aus postnational-neoliberalen Kreisen verlautbart. Denn solche vermeintlichen „Erfindungen“ wurzeln stets auf dem „Rohmaterial“ ethnischer, kultureller und sozialer Voraussetzungen. Die machen zwar keinen „natürlichen“, aber trotzdem unverfügbaren „realen Kern“ der Herausbildung moderner bürgerlicher Gesellschaften aus, ihrer sich verdichtenden sozialen Kommunikation, in der sich nationales Zugehörigkeitsempfinden entwickelte. Wie das Eurobarometerseit Jahrzehnten anzeige, lasse sich ein ähnlich intensives Gefühl von europäischer Identität bisher kaum erkennen. Und nur weil man das Frageformat änderte, fühle sich heute etwa ein Zehntel der Befragten Europa hauptsächlich zugehörig. Als Superstaat, der diese „vorpolitischen sicheren nationalen Identitäten“ planiere, werde die EU mit ihrer „marktliberalen Schlagseite“ daher keine Zukunft haben. 


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