© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Die Strategie der Spannung
Italiens bleierne Jahre 1969 bis 1984 unter des Geißel des Rechts- und Linksterrorismus
Werner Olles

Es begann am 12. Dezember 1969, als bei einem Bombenattentat auf der Piazza Fontana in Mailand 17 Menschen getötet und 88 verletzt wurden. Verantwortlich für den Anschlag war die rechtsterroristische Organisation Ordine Nuovo, Nachfolgerin des gleichnamigen Studienzentrums des MSI (Movimento Sociale Italiano)-Politikers Pino Rauti, dem angeblich auch die Planung und Leitung des Bombenanschlags oblag. 

Rauti, seit der Gründung des MSI 1946 führendes Mitglied der Partei, die von Kämpfern der Italienischen Sozialrepublik, Mussolinis Repubblica Sociale Italiana (RSI), gegründet wurde, hat dies allerdings bis zu seinem Tod 2012 immer glaubhaft bestritten. Tatsächlich gründete er Ordine Nuovo 1956 als „Denkfabrik“, die als solche auch bis 1969 arbeitete, dann aber gegen seinen Willen in die Hände von Terroristen geriet, während der eigentliche Drahtzieher und Urheber des Attentats Stefano Delle Chiaie war, Gründer der neofaschistischen Organisation Avanguardia Nazionale (AN), deren Mitglieder am 31. Mai 1972 mit einer Autobombe bei Peteano drei Carabinieri töteten. 

Als Gianfranco Fini Mitte der 1990er Jahre den MSI zugunsten der nationalkonservativen Alleanza Nazionale auflöste, gründete Rauti, der Senator in Rom war, Fiamma Tricolore, die an die Tradition der sozialrevolutionären RSI anknüpfte und im Sinne einer Querfront-Strategie Kontakte zu radikalen linken Gruppen suchte. Auf das Konto von Ordine Nuovo ging indes das Attentat von Gioia Tauro auf den Zug von Rom nach Messina am 22. Juli 1970 mit sechs Todesopfern und 100 Verletzten, während Avanguardia Nazionale der mysteriöse Verkehrsunfall von vier Anarchisten zur Last gelegt wurde, deren Auto mit einem Lastwagen zusammenstieß. Sie planten den Behörden Beweise zum Blutbad von Gioia zu liefern, das nach ihren Aussagen in Zusammenhang mit dem vom MSI initiierten Volksaufstand in Reggio Calabria, einer Hochburg des MSI, stand. Die genauen Umstände des Anschlags sind bis heute ungeklärt, auch ein Attentat der ’Ndrangheta, die durch den Aufruhr ihre Geschäfte in Gefahr sah, war im Gespräch. 

Blutige Straßenkämpfe von Rechten und Linken

Delle Chiaie war inzwischen nach Chile geflohen und arbeitete dort mit Pinochets Geheimdienst DINA zusammen. Nach dem Verbot von Ordine Nuovo liefen einige Militante zu Ordine Nero über, der 1974 ein Dutzend Anschläge verübte, darunter einen Angriff auf ein Volkshaus in Moriano und das Hauptquartier der Sozialistischen Partei (PSI) in Lecce. Es war dies eine Theorie des reinen Terrorismus und wahlloser Anschläge, die in verschiedenen Städten durchgeführt wurden. Die größten Attentate fanden im Mai 1974 statt, als bei einer antifaschistischen Demonstration in Brescia acht Teilnehmer durch Handgranaten starben und im August 1974 im Italicus-Zug eine Bombe explodierte, die zwölf Opfer forderte. 

Angeheizt wurde die „Strategie der Spannung“, die von Teilen der Nachrichtendienste, Militärs und der Geheimloge Propaganda Due (P2) von Licio Gelli mit Interesse und Wohlwollen beobachtet wurde, durch die Straßenkämpfe zwischen linksradikalen Militanten der Gruppen Lotta Continua und Potere Opereia und Anhängern der MSI-Jugendfront. Höhepunkt war indes das am 2. August 1980 von den Mitgliedern der Gruppe Nuclei Armati Revoluzionari (NAR) Francesca Mambro und Valerio Fioravanti verübte Massaker von Bologna mit 85 Toten und über 200 Verletzten. NAR operierte in den Jahren 1977 bis 1981 und setzte sich aus ehemaligen Mitgliedern von Ordine Nero, Ordine Nuovo und AN zusammen. Sie huldigte einem bewaffneten Spontaneismus und finanzierte sich durch Bank- und Raubüberfälle. 

Ein weiteres Attentat fand am 23. Dezember 1984 im italienischen Schnellzug Rapido 904 während der Fahrt durch einen Tunnel statt. Die Bombe tötete 27 Menschen und verletzte 180. Es war die letzte größere Aktion einer rechtsterroristischen Gruppe, gleichwohl blieben Organisationen wie Terza Posizione (TP), 1978 von Roberto Fiore, dem heutigen Vorsitzenden von Fuerza Nuova (FN), und Gabriele Adinolfi, dem Chefideologen von Casa Pound, aus den Resten der Jugendorganisation Lotta Studentesca (LS) als Nationalrevolutionäre Bewegung gegründet, die sich gleichzeitig vom Kommunismus als auch von der kapitalistischen Rechten distanzierte, weiterhin aktiv. 

Nachdem die Jugendfront des MSI praktisch nicht mehr existierte, waren Gruppen wie Terza Posizione (TP), bei denen es darum ging, unnötige Opfer und Gewalt zu vermeiden, für junge Neofaschisten attraktiv. TP sah sich als Elite, die paramilitärisches Training absolvierte, aber vor allem auf nationale Befreiungsbewegungen und Traditionen des Revolutionären Faschismus setzte, die sich auf Julius Evola oder Pierre Drieu La Rochelle und die Theorie eines vereinigten, antikapitalistischen und antibürgerlichen Europa beriefen. Die Militanten beobachteten auch die Erfahrungen von Peron in Argentinien, des rumänischen Führers der Eisernen Garde Codreanu, agitierten gegen lateinamerikanische Diktatoren wie Vileda in Argentinien, solidarisierten sich mit antiimperialistischen Bewegungen wie der PLO und nicaraguanischen Sandinisten, angeführt vom Charismatiker Eden Pastora. 

14.000 linke Gewaltakte mit weit über 1.000 Toten

Erst als einige Mitglieder den subversiven Kampf aufgaben und zu den NRA stießen, entstand eine neue Generation, die bewaffnet gegen die etablierte Macht kämpfte. Es folgten Überfälle auf die Chase Manhattan Bank, Angriffe auf das Hauptquartier der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) und die Zeitung Paese Sera. Während die führenden Kader Adinolfi und Fiore nach England flohen, wurden andere Militante verhaftet. Die NAR löste jede Beziehungen zu TP und stellte den bewaffneten Kampf gegen den Staat zugunsten von Fememorden gegen Informanten und „Feiglinge“ ein. Mehrmals versuchte man Roberto Fiore und Gabriele Adinolfi zu töten, der sizilianische Führer von TP wurde in einem Kiefernwald in Rom hingerichtet. 

Während rechtsterroristische Gruppen weitgehend ausgedient hatten, hielten Linksterroristen wie Brigate Rosse (BR) und Prima Linea (PL) an der „Strategia della Tensione“ fest. Angehörige der BR, die im März 1975 das junge MSI-Mitglied Sergio Ramelli in Mailand erschlagen und zwei Angehörige der MSI-Jugendfront in Padua erschossen hatten, verübten in den späten 1970er und 1980er Jahren über zwanzig Attentate. PL, nach BR die größte Organisation des Linksterrorismus, deren Mitglieder Lehrer, arbeitslose Akademiker und Lumpenproletarier waren, betätigte sich auch im Heroin- und Waffenhandel. 

Logistische Unterstützung kam von der PLO und dem tschechischen Geheimdienst StB. Prag, Syrien und Libyen stellten Trainingslager zur Verfügung. 1988 folgte die Trennung der BR in die BR-PCC (Kommunistische Kampfpartei) und BR-UCC (Union der kämpfenden Kommunisten), die hohe Militärs, Politiker und Polizisten ermordeten. Nach ihrer Auflösung in den 1990er Jahren töteten Reste der BR Unternehmer, Richter und 2003 einen Berater von Berlusconi. Ihrer Verhaftung entzogen sich die Führer durch die Flucht nach Frankreich, wo sie von Mitterrand Immunität bekamen. 

Auf das Konto des Linksterrorismus gehen 14.000 Gewaltakte, darunter der Mord an Aldo Moro, und ein vom Terror geschundenes Land. Das Ziel der vom „tiefen Staat“ instrumentalisierten Rechts- und Linksterroristen, Italien zu destabilisieren und mit paramilitärischen „Stay-behind-Organisationen“ wie der CIA-finanzierten Geheim-Armee „Gladio“ einen Staatsstreich zu provozieren, war gescheitert. Die blutigen Attentate der diversen Terrorgruppen kosteten indes weit über 1.000 Menschen das Leben.