© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Der Flaneur
Eine Frau wie ein Gedicht
Paul Leonhard

Sie greift in die neben ihr auf dem Stuhl stehende Papiertüte mit dem Label eines Biomarktes. Suchend tasten ihre Finger, ehe sie mit einem handtellergroßen Gegenstand wieder hervorkommen. Sie schält die Verpackung beiseite, beäugt den Inhalt und beißt herzhaft hinein. Ich bin begeistert. Lange habe ich niemanden mehr so mit Genuß in einen Käse beißen sehen.

Die junge schlanke Frau, die da einsam auf ihrem hölzernen Klappstuhl dem Dichtervortrag lauscht, beginnt mich zu interessieren. Rittlings sitzt sie, die Ellenbogen auf die Rückenlehne gelegt. Sie trägt ein Achselshirt und enganliegende Stoffhosen, die unter den Knien enden.

Sie klatscht allerdings an einer Stelle, an der ich eher buh gerufen hätte.

Ihre dunkelbraunen Haare hat sie hochgesteckt. Kein Schmuckstück an den Fingern, am Hals oder den Handgelenken, keine Tätowierung an der leicht gebräunten weißen Haut. Dafür eine Körperhaltung, die Ruhe ausstrahlt und Distanz. Da ist jemand mit sich vollkommen im reinen. Ihre Augen blicken interessiert, aber nicht zu mir, sondern auf eine grüne Gurke, an der sie jetzt knabbert. Der Käse ist wieder verpackt und in der Tüte verschwunden. Der erste Poet beendet seinen Vortrag. 

Lautlos klatscht sie mit einer Hand auf die Innenseite des Handgelenks der anderen. Denn die andere Hand hält ja die Gurke. Es ist ein höfliches, distanziertes Klatschen. Der Gurke folgt ein Pfirsich, der noch mehr Aufmerksamkeit als die Gurke erfährt, dann wiederum der Käse.

Zu meinen Studentenzeiten wäre sie wohl mein Schwarm gewesen. Ich schätze sie auf Ende Zwanzig, als sie dann die Stirn kraust, weil sie sich umschaut, auf Anfang Dreißig. Egal, viel zu jung. Außerdem klatscht sie gerade an einer Stelle eines Gedichts, wo ich eher buh gerufen hätte. 

Ich stelle mein Menschenstudium ein und ziehe mir eine Jacke über. Es ist kühl geworden. Interessanterweise findet sie das auch. Und holt ebenfalls einen Pullover aus ihrer Biomarkttüte. Ich bummle davon. Sie bleibt.