© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Fühlen statt denken
Der Journalist Alexander Kissler beschreibt die Infantilisierung der Gesellschaft mit ihren egomanischen und leicht zu steuernden Menschen
Jürgen Liminski

Die Lektüre dieses Buches sollte man mit dem letzten Kapitel anfangen. Dort wird, auf Seite 252, erklärt, worum es geht. Alexander Kissler greift den Spruch „I don’t think, I feel“ auf einem T-shirt auf und sagt: „Der Spruch ist das Regierungsprogramm der Kindsköpfe aller Länder, der kategorische Imperativ der infantilen Gesellschaft.“ Alle anderen Kapitel sind Beschreibungen, mal analytisch-treffend, mal zurückhaltend-zynisch, wie diese Gesellschaft sich in infantilem Diskurs und Gehabe verliert. 

Zum Beispiel der Kult um den Wolf, Kapitel vier. Kissler referiert hier unter anderem das Buch, das der Grüne Robert Habeck mit seiner Frau geschrieben hat, und zitiert: „Ein Wolf frißt nur, um zu überleben. Der Mensch tötet Tiere aus Vergnügen.“ Und stellt dann nüchtern fest: „Warum es dann zum surplus killing kommt, bei dem der Wolf mehr Tiere tötet, als er zu fressen vermag, wird im Buch nicht erörtert. Hier ist die Welt moralisch geordnet: Wer Wölfe nicht schätzt, ist kein guter Mensch, was hier besonders für Polizisten gilt.“ Hinter der Wolfsromantik hierzulande vermutet Kissler einen „Zerknirschungsfuror, einen Wiedergutmachungsehrgeiz, der zuweilen über das Ziel hinausschießt“, und generell gilt für die infantile Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Flora und Fauna: „Ohne ein reduziertes Menschenbild läßt sich das Tier nicht zum menschlichen Vorbild maximieren. (...) Wer sich mit menschlichen Kategorien der Tierwelt nähert, wird weder den Menschen noch den Tieren gerecht. Der ist entweder sehr schlecht informiert oder arg infantil.“

Dasselbe gilt auch für den Rummel um die schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg. Hier reicht der Infantilismus bis hin zum „religiösen Entzücken“, wofür Kissler die Bischöfe Franz Jung aus Würzburg und Heiner Koch aus Berlin sowie diverse Politiker, Wirtschaftskapitäne und Journalisten als begeisterte Zeugen heranzieht. Jung macht Greta gendergerecht zum heutigen David, zum „kleinen Mädchen, das die Großen dieser Welt ins Zittern“ bringt. Kissler ergänzt: „Wie einst David den Riesen Goliath, den er freilich brutal tötete. Dieses nicht unwichtige Detail setzt der Vergleichbarkeit von Altem Testament und 21. Jahrhundert eine harte Grenze.“ Ähnlich beim Prophetenvergleich des Berliner Bischofs zwischen Greta und Fridays for Future auf der einen und dem Einzug Jesu in Jerusalem auf der anderen Seite. Kissler fragt: „Prophezeit der Berliner Bischof der ‘echten’ Prophetin Greta ihren baldigen gewaltsamen Tod? Wird man sie ans Kreuz nageln? Auch hier verpufft die Aktualisierungsenergie im interpretatorischen Klima der Bibel.“ 

An solchen und anderen Beispielen macht Kissler deutlich, daß Ignoranz und Verdrängung der Wirklichkeit, ja nicht-wissenwollende Überheblichkeit ein Merkmal des infantilen Diskurses ist. Andere Merkmale sind die Duzerei (alle können allen auf Kinderaugenhöhe begegnen) oder auch die Verniedlichungen von Vornamen (Joe Kaeser statt Josef Käser, wie sich der Siemens-Chef nennt, oder Malu Dreyer, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin, die eigentlich Marie-Luise Anna Dreyer heißt, oder auch die Grüne Ska Keller, mit vollem Namen Franziska Maria Keller).

Entscheidendes und alles überwölbendes Kriterium aber ist das Gefühl. Deshalb ist, so Kissler, „die infantile zugleich die sterile Gesellschaft. Alles ist in ihr Gefühl und darum alles ein Problem, denn mit den Gefühlen der anderen kann ich nicht rechnen. In der infantilen Gesellschaft hat jedes Gefühl Bestandsschutz und Ewigkeitsgarantie. (...) Deshalb steht die infantile Gesellschaft am Ende aller Diskurse, sie kennt nur das eigene Wohlsein, nie das Gemeinwohl.“ Das wird, was Kissler leider nicht als Beispiel ausführt, besonders deutlich in der Migrationsdebatte, Stichwort Willkommenskultur.

Kissler macht auch auf die Gefahr aufmerksam, die einer Wohlfühlrepublik droht. „Wer in einer infantilen Gesellschaft herrschen will, muß nur dafür sorgen, daß die Gefühle regieren. Und an diese appellieren zu eigenen Zwecken. Der infantile ist der leicht zu steuernde Mensch.“ Das verstehen und praktizieren in der Corona-Krise die Kanzlerin und ihr beflissen-gelehriger Schüler Markus Söder hervorragend. Sie spielen mit den Gefühlen, mahnen, drohen und verweisen auf „die Wissenschaft“, die doch in dieser Frage oft uneins ist. 

Gegen den Infantilismus setzt Kissler, wen wundert’s, den erwachsenen Menschen, der sich durch Selbstdenken, ein gutes Maß an Skepsis und Zweifel – gelegentlich auch gegenüber sich selbst – auszeichnet. Kissler nennt es Souveränität. Hier bleibt der Autor im Gegensatz zu den seitenlangen Beschreibungen der Beispiele allerdings ziemlich knapp. Da hätte man gern mehr gelesen als die zwei Seiten am Schluß, die ja doch den Untertitel des Buches rechtfertigen sollen. Aber vielleicht kommt das im nächsten Buch.

Alexander Kissler: Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife. Verlag HarperCollins, Hamburg 2020, gebunden, 256 Seiten, 20 Euro