© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Schatz, wir müssen reden
Corona: Der Machtzuwachs der Exekutive und besonders des Gesundheitsministeriums stößt im Bundestag fraktionsübergreifend auf Kritik / Söder hält dagegen
Jörg Kürschner

Sieben Monate nach Beginn der Corona-Pandemie streitet die Politik darüber, ob der Rechtsstaat die durch Gewaltenteilung und Föderalismus vorgegebene Machtbalance auch in Krisenzeiten garantiert. Anlaß dazu bietet die Bund-Länder-Praxis, Grundrechte ohne Beteiligung des Bundestags einzuschränken sowie Überlegungen der CSU-Führung, die Position des Bundes gegenüber den Ländern aufzuwerten.

Es war der FDP-Querdenker Wolfgang Kubicki, der Angela Merkel (CDU) hart anging. „Die Bundeskanzlerin ist nicht diejenige, die einfach anordnen kann, wie wir uns verhalten sollen. Jeder, der das Gefühl hat, er müsse diesen Worten folgen, soll das tun. Aber jeder, der das Gefühl hat, er kann auch anders weiterleben, sollte dies auch tun.“ Der Bundestagsvizepräsident wies auf zahlreiche Gerichtsentscheidungen hin, die Corona-Maßnahmen als unverhältnismäßig und damit für unwirksam erklärt hatten. Am vergangenen Wochenende forderte die Regierungschefin die Bürger angesichts steigender Corona-Neuinfektionen eindringlich auf, „auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist“, zu verzichten. 

Merkel hatte sich unzufrieden über die wenige Tage zuvor mit den 16 Länderchefs gefaßten Beschlüsse gezeigt.  „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, sagte sie nach Angaben von Teilnehmern. Die Runde im Kanzleramt hatte sich auf einheitliche Regeln für Städte und Regionen mit hohen Infektionszahlen verständigt. Dazu gehören eine Ausweitung der Maskenpflicht, eine Begrenzung der Gästezahl bei privaten Feiern, Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und eine Sperrstunde für die Gastronomie.  Bund und Länder hatten sich aber nicht auf eine einheitliche Linie bei den umstrittenen Beherbergungsverboten einigen können.

„Wir müssen aufpassen, daß sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten, die sich immer mehr als Zuchtmeister der Bürger aufspielen, nicht an sich selbst berauschen und dabei unter dem Vorwand der Krisenbekämpfung unser parlamentarisches System aushebeln“, warnte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland. Unbehagen wurde auch bei den Grünen und der Linken geäußert. 

„Föderalismus stößt an seine Grenzen“

Doch die Kanzlerinnenschelte beschränkte sich nicht nur auf die Opposition. „Seit fast einem Dreivierteljahr erläßt die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen, die in einer noch nie dagewesenen Art und Weise im Nachkriegsdeutschland die Freiheiten der Menschen beschränken, ohne daß auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt hat“, empörte sich der SPD-Rechtsexperte Florian Post. Eine Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Länderchefs sei im Grundgesetz „nicht als gesetzgeberisches Organ vorgesehen“. 

Von einer „beunruhigenden Entwicklung“ sprach Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU). Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) schrieb an die Fraktionschefs, das Parlament müsse „seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen“. Rechtswissenschaftler wiesen darauf hin, die Bürger könnten über Gesetze diskutieren, nicht aber über eilig erlassene Verordnungen.

Die Kritik verstärkte sich noch, da Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die ihm vom Bundestag im März für ein Jahr eingeräumten Sonderrechte erweitern und verlängern will. Das Infektionsschutzgesetz regelt, daß „die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen“ treffen kann, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. So können Personen verpflichtet werden, „den Ort, an dem sie sich befinden“, nicht zu verlassen oder bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht zu betreten. Dem Gesetzentwurf zufolge soll Spahn künftig ermächtigt werden, Verordnungen bereits zu erlassen, „wenn dies zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist“. Vor wenigen Wochen hatte der CDU-Politiker noch eingeräumt, mit dem heutigen Wissen wären im Frühjahr viele harte Maßnahmen nicht nötig gewesen.

Rückendeckung erhielt Spahn vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der die FDP ob ihrer Kritik in die Nähe der AfD rückte. Er riet ihr, „noch mal zu überlegen, ob der Kurs, den sie sich da gemeinsam mit der AfD auferlegt, wirklich der richtige fürs Land ist“. Den Föderalismus sieht der CSU-Chef in der Pandemiekrise offenbar als Hindernis. „Ich bin ein überzeugter Föderalist, aber ich glaube, daß der Föderalismus zunehmend an seine Grenze stößt“. Der Bund müsse, bevor es vielleicht ein neues Infektionsschutzgesetz gebe, die Möglichkeit haben, mit „Bundesverordnungen“ zu agieren.