© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Die klare „rote Linie“ überschreiten
Niederlande: Die Regierung will die Euthanasieregelung für Kinder von ein bis zwölf Jahren gestatten / Nur die traditionellen christlichen Parteien wehren sich
Mina Buts

In einem Brandbrief wandte sich der niederländische Gesundheitsminister Hugo de Jonge von den Christdemokraten an das Parlament: Eine Euthanasieregelung für Kinder von eins bis zwölf Jahren soll endlich auf den Weg gebracht werden. 

Schon im vergangenen Jahr hatte er eine Gesetzesänderung angemahnt; eine erste Beratung hätte im Januar stattfinden sollen und wurde wegen „Corona“ erst einmal aufgeschoben. Nun will die Regierungskoalition, bevor im März kommenden Jahres die Parlamentswahlen stattfinden, noch rasch diese Gesetzeslücke schließen.

In den Niederlanden gibt es seit 2002 die Möglichkeit, aktive Sterbehilfe zu verlangen. Die Entscheidung darüber wird nach Alter abgestuft gefällt: Bei Kindern bis zu einem Jahr entscheidet der Arzt in Abstimmung mit den Eltern, bei Kindern von zwölf bis sechzehn entscheiden die Eltern, in der Altersstufe der 16- bis 17jährigen muß der Elternwunsch zumindest mit berücksichtigt werden. Ab der Volljährigkeit obliegt die Entscheidung dem Sterbewilligen. In jedem Fall gilt aber, daß die Krankheit unheilbar und der Schmerz unstillbar sein müssen. Ausgenommen von all diesen Regelungen war bislang die Ein- bis Zwölfjährigen.

Diese Lücke soll nun geschlossen werden. 84 Prozent der niederländischen Kinderärzte befürworten die Möglichkeit der Euthanasie auch für diese Altersgruppe. In einer anonymen Untersuchung unter Kinderärzten zeigte sich, daß es in den vergangenen fünf Jahren 359 todgeweihte Kinder gab, die für eine Tötung auf Verlangen in Frage gekommen wären. 

In 46 Fällen, so die Auskunft der befragten Ärzte, hätten die Kinder „zu lange gelitten“. Etwa fünf bis zehn Kindern dieser Altersgruppe könnte durch die Regelung zukünftig eine zu lange Leidenszeit vor dem Tod erspart werden.

Eduard Verhagen, Professor an der Uniklinik in Groningen, beschreibt das Unbehagen über die jetzige Lage. Bislang gäbe es nur drei Möglichkeiten für die Behandlung dieser Kinder: hohe Dosen von Schmerzmitteln, die Beendigung der Behandlung oder das „Versterben“, eine besonders grausame Methode, bei der die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr eingestellt wird. 

Vor allem letztere Methode sei oft mit unerträglichen Qualen verbunden. Auch betroffene Eltern beschweren sich über das unwürdige Lebensende ihrer Kinder, auf das sie bislang keinen Einfluß nehmen dürfen. Diese würden unruhig, schnappten nach Luft, bekämen heftige Epilepsieanfälle, und oft dauere das Sterben Wochen.

Die Meinung der niederländischen Bevölkerung für eine Regelung ist sehr eindeutig: In einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr sprachen sich 87 Prozent für mögliche Euthanasie in dieser Altersgruppe aus, nur neun Prozent votierten dagegen. 

Auch die parlamentarische Zustimmung zu einem entsprechenden Gesetzentwurf dürfte sicher sein, zumal die an der Regierung nicht beteiligten Grünen, die Sozialisten der PvdA und SP sowie die Älterenpartei 50Plus ihre Unterstützung bereits signalisierten. Die beiden Rechtsparteien PVV und Forum für Demokratie (FvD) äußern sich hingegen bislang zurückhaltend. Scharfe Kritik kommt von den beiden traditionellen christlichen Parteien, der SGP und der „ChristenUnie“. Letztere betonte, daß es bei der Abwägung eine ganz klare „rote Linie“ gäbe. Eine Euthanasie für Kinder unter zwölf auf ärztliches Betreiben sei nicht verhandelbar.