© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Demokratie ist nicht nur liberal
Auszüge aus Viktor Orbáns Essay „Gemeinsam wird es erneut gelingen“: Konservative haben die Chance, sich nun aus der „lebensbedrohlichen Umarmung durch die Liberalen zu befreien“
Curd-Torsten Weick

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hält jedes Jahr eine philosophisch-politische Rede auf der Sommeruniversität von Tusnádfürdo (Bad Tuschnad) in Siebenbürgen. Hier benutzte er nach Angaben der Visegrád Post erstmals 2014 den Begriff der illiberalen Demokratie. Jedes Jahr setzt er sich dort mit unterschiedlichen Themen auseinander, so der Bedeutung der Visegrád-Gruppe (V4), bestehend aus Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, dem Kampf gegen die illegale Einwanderung sowie gegen die Netzwerke des US-Investors George Soros. Angesichts der Corona-Pandemie fand dieses Jahr jedoch keine Sommer-

universität statt, und Orbán wählte anstatt des Vortrags einen Essay, der in der Zeitung Magyar Nemzet veröffentlicht wurde. Auszüge aus diesem Essay veröffentlicht die JUNGE FREIHEIT mit Dank an das Kabinettsbüro des Ministerpräsidenten. Fazit des Essays sei, so Orbán gegenüber Magyar Nemzet, daß die Doktrin, „Demokratie sei nur liberal“, längst ihre Gültigkeit verloren habe. Vor diesem Hintergrund gab Orbán dem US-Präsidenten eine eindringliche Empfehlung. „Ich drücke die Daumen für den Sieg von Donald Trump, denn wir wissen sehr wohl, daß die Außenpolitik der Regierungen der amerikanischen Demokraten auf moralischem Imperialismus beruht. Wir haben es gekostet ... Es hat nicht gut geschmeckt.“





Die EU-Bürger sind nicht mehr bereit, jedes Brüsseler Märchen zu schlucken

Unsere Politiken stehen sich auch in der Frage gegenüber, die man in Brüssel elegant als Subsidiarität zu bezeichnen pflegt. Nach Ansicht der Liberalen ist es gut, wenn möglichst viele nationale Regierungskompetenzen den internationalen Organisationen übergeben werden. Deshalb klatschen sie brav, deshalb erscheint eine Träne im Auge und deshalb schlägt das Herz schneller, wenn irgendeine internationale Organisation eine neue Zuständigkeit, eine neue Aufgabe und natürlich Geld erhält, denn dadurch erhalten ja die universellen Ideale, die europäischen Werte, die universellen Menschenrechte eine weitere Ermunterung und Anerkennung.

Die Begeisterung der Christdemokraten hält sich aber in Grenzen, denn sie sehen, daß solche Organisationen auf unvermeidliche Weise zur Willkür neigen, sie neigen dazu, das als „Rule of Law“ zu bezeichnen, was lediglich „Rule of Blackmail“ ist, sie sind den Sorosschen netzwerkartigen Versuchen, in sie einzudringen, ausgeliefert, und wenn zwischen den Bürgern der einzelnen nationalen Gemeinschaften und den Großen des globalen Kapitals eine Auswahl getroffen werden muß, so wählen sie immer die letzteren. Die Bürger der europäischen Nationen hatten bald erkannt, daß die heutigen europäischen Institutionen nicht ihren Interessen, sondern denen von George Soros und Konsorten dienen. Sie sind nicht mehr bereit, jenes Brüsseler Märchen zu schlucken, daß ein dadurch reich gewordener Finanzspekulant, der andere kaputtgemacht hat, nur deshalb über die Brüsseler Korridore schlurft, um seine uneigennützige Hilfe Europa anzubieten.





Liberalismus und Konservatismus – zwei konträre politische Theorien

Es scheint so, daß sich die konservativen und die christdemokratischen Parteien und politischen Bewegungen aus der lebensgefährlichen Umarmung der Liberalen werden befreien können. Sätze wie „So etwas wie illiberale Demokratie gibt es nicht“ und ähnliche andere werden jetzt schon in den Büchern der politischen Torheiten festgehalten, mögen sie von noch so weit oben kommen.

Die konservativen politischen Denker haben endlich den Mut aufgebracht, und mit einer Linienführung, die selbst die Eleganz der mathematischen Beweise übertrifft, beweisen sie, daß der Liberalismus und der Konservativismus zwei entgegengesetzte Positionen der politischen Theorie vertreten. Sie haben gezeigt, daß die Argumente derer, die den Konservativismus unter den großen Schirm des Liberalismus zwängen wollen, falsch sind. Jene, die behaupten, man könne sich die Gewaltenteilung, die bürgerlichen und die politischen Freiheitsrechte, den Schutz des Privateigentums und die in Schranken gewiesene Regierung, also die Herrschaft des Rechtes, den Rechtsstaat nur innerhalb des geistigen Rahmens des Liberalismus vorstellen und nur durch das Instrument der liberalen Demokratie verwirklichen, irren sich, um bei dieser gutwilligen Erklärung zu bleiben.





Nur eine einzige Chance für die Christdemokratie

Es ist die einzige Chance der Christdemokratie, wenn sie sich der offenen geistigen und politischen Auseinandersetzung stellt. Wenn sie aufhört, darum herumzureden und sich nicht mehr als Tölpel verstellt, der nicht sieht und versteht, was um ihn herum geschieht. Wenn sie sich wehrt und die vier Sätze ausspricht, die in der Lage sind, die gesamte europäische Politik zu verändern: Unsere nationalen und christlichen Grundsätze sind nicht liberal. Sie sind vor dem Liberalismus entstanden. Sie stehen dem Liberalismus gegenüber. Der Liberalismus vernichtet sie heute.





Der Westen hat seine Anziehungskraft verloren

Es ist nichts Überraschendes daran, daß die mitteleuropäischen Länder lieber eine andere, eine einwanderungs- und migrationsfreie Zukunft gewählt haben. Es ist auch nicht überraschend, daß im Mittelpunkt der Politik der Visegrád-Staaten die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit steht, auch dann, wenn Brüssel gerade in die entgegengesetzte Richtung schreiten möchte. Bis ins Absurde angehobene Klimaziele, soziales Europa, gemeinsames Steuersystem, multikulturelle Gesellschaft.

Kein Wunder, daß das eingetreten ist, was man mit dem nüchternen Verstand hatte einsehen können. Der Westen hat in den Augen Mitteleuropas seine Anziehungskraft verloren, und unsere Einrichtung des Lebens erscheint für die Westler als nicht wünschenswert.





Im Fadenkreuz der Liberalen stehen Dinge, die für uns am wichtigsten sind

Die heutige Vermischung von Konservativismus und Liberalismus ist darauf zurückzuführen, daß in den großen Schlachten gegen den Totalitarismus die Konservativen und die Liberalen ihre wesentlichen und damals noch offensichtlichen Unterschiede beiseite gelegt haben. Sie legten sie beiseite und schlossen ein Bündnis gegen den gemeinsamen Feind. Ein Bündnis gegen den Nazismus und den Kommunismus, gegen die Nazis und die Kommunisten. Dies war ein langer, ein Jahrhundert dauernder Kampf, und wie sehr sich die Gedanken, Argumente, Fundamente der Verbündeten miteinander verquickt hatten, stellte sich erst heraus, als mit dem Fall der Berliner Mauer das Bündnis im Westen und mit dem Abzug der Sowjets auch im Osten seinen Sinn verloren hatte. (...)

Doch hat sich die Situation in der Zwischenzeit geändert. Die Dinge haben sich zum Ernsten gewendet. Was früher als geringer geistiger Fehler, als falsche Körperhaltung, als eine Anomalie erschien, die man aushalten könnte, verhindert heute, daß wir in wichtigen Dingen klarsehen können. Die Tatsache wird verdeckt, daß für die Konservativen und die Christdemokraten heute und in Zukunft der Liberalismus und die Liberalen die größte Herausforderung und die größten Gegner darstellen. Die Grundsätze des christdemokratischen und des liberalen Denkens sind einander diametral entgegengesetzt, und im Fadenkreuz der Angriffe der Liberalen stehen lauter Dinge, die für uns gerade am wichtigsten, die Eckpfeiler der als wünschenswert angesehenen politischen Ordnung, die Mitte des Herzens der konservativ-christdemokratischen Tradition sind, wie die Nation, die Familie, die religiöse Tradition.





Aufstand gegen die liberale geistige Unterdrückung

Unser vor Jahren gerade in Tusnádfürdo begonnener Kampf für die geistige Souveränität und die intellektuelle Freiheit beginnt langsam Ergebnisse zu zeigen. Das Flußbett des Aufstandes gegen die Politische Korrektheit, das heißt gegen die Diktate der Doktrinen, der Sprechweisen und der Stile der liberalen Leichtgewichte verbreitert sich ständig. Immer mehr Menschen streifen schon die Ketten der bereits erstickend engen einzig richtigen Art zu sprechen, der einzig richtigen Auffassung von Demokratie, der einzig richtigen Deutung Europas und des Westens auf immer mutigere Weise ab. Der Befreiungsversuch an sich ist nicht einfach, das Risiko der Bestrafung ist groß. Ausschluß aus dem akademischen Leben, Stellenverlust, Stigmatisierung, universitärer Spießrutenlauf, die Beispiele sind langsam alltäglich. Aber selbst wenn es gelingt, die gut bezahlten und mit der Genauigkeit eines Uhrwerks patrouillierenden Grenzwächter der liberalen Leichtgewichte zu überwinden, müssen wir uns auch noch der tiefsitzenden Reflexe der noch so gutwilligen Zuhörerschaft  erwehren. Vergebens ist die Argumentation noch so ausgefeilt, das Lob des Nationalismus bereitet den deutschen Mägen selbst dann Schmerzen, wenn über ihn Professor Hazony aus Jerusalem schreibt. Und in welch samtener Tonlage wir auch über die illiberale Demokratie sprechen, für die deutschen und angelsächsischen Ohren hört sich dies furchtbar an. Heute noch.

Doch verbreitet sich das Flußbett des Aufstandes gegen die liberale geistige Unterdrückung nicht nur, sondern es wird auch tiefer. Es gibt immer mehr überzeugende Essays, gründliche Studien und grundlegende Monographien. Auch wenn man es in der Brüsseler Blase nicht zugibt, so sehen wir schon, daß der Kaiser nackt ist. Die Doktrin des „Demokratie kann nur liberal sein“, der unantastbare Götze, der große Fetisch ist gestürzt, jetzt müssen wir nur noch darauf warten, daß sich die Staubwolke setzt, und dann werden wir es nicht nur wissen, sondern auch sehen.






Rüsten für den Kampf gegen die globalen Eliten

Der Kampf zwischen der globalen Elite und dem nationalen Widerstand ist noch nicht entschieden. Deutlich erkennbar ist: Die globale Elite findet sich nicht damit ab, daß eine ihren Interessen entgegengesetzte Politik sich in Mitteleuropa verwurzelt.

Wir haben sehen können, was während des Wahlkampfes zur Wahl des polnischen Staatspräsidenten geschah. Im Frühling sah es noch so aus, als läge die polnische Linke in Trümmern, ihre ewigen Diskussionen würden ihre Kandidatin sowieso chancenlos werden lassen. Es kam aber anders, der Kandidat der Linken, hinter dem sich das Soros-Netzwerk, die Brüsseler Elite und die internationalen Medien aufreihten, zwang die nationale Seite im Laufe von einigen wenigen Wochen zu einer großen Auseinandersetzung. Andrzej Duda konnte schließlich in einer zugespitzten Auseinandersetzung schließlich seinen Widersacher aus dem Lager der Linken geradeso übertreffen.